Hungerleider aus dem Osten müssen sterben
Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Fischer Verlag 2016)
Es beginnt auf der Autobahn. Das ist die Autobahn, über die jeder von uns schon einmal gefahren ist, und wer früher nach Polen fuhr, kennt auch die schrecklichen, endlosen Staus. Wir sind damals noch viel weiter geradeaus gefahren, immer in den Osten. Bis dann irgendwann in Weißrussland der Schnee die Wegweiser und die Verkehrszeichen auffraß und die Tankstellen, zu rätselhaften, kaum erkennbaren Überlebensstationen wurden. Hier gab es weder Brötchenautomaten, noch Kaffeetassen, hier lagerten in einem betonverkleideten Keller die Fässer mit den Substanzen des Lebens: Wasser, Treibstoff, Bier und noch irgendwas: Samogonas, Dektine, Schnapsas. Unser Ziel war der litauische Wald und dahinter eine litauische Universität. Mit Lesesälen, Hörsälen, mit einer Prüfungsordnung und ganz und gar ohne Geld.
Das war in den 90ern. Die Studenten fuhren damals in den Semesterferien nach Deutschland, um Autos zu verschieben. Die Züge waren zum Brechen voll, weil die Zigaretten in Polen etwas teurer waren als im Baltikum. Der deutsche Zoll durchwühlte hingebungsvoll das Gepäck. Eine lange Aldisalami entsprach im Osten ungefähr dem Tauschwert für ein ukrainisches Klavier. Wer mehr darüber wissen möchte, könnte bei Stasiuk nachlesen. Stasiuk ist dem Osten verfallen wie einer Sucht. Er musste die Dosis steigern, schließlich trieb es ihn bis über den Amur.
https://www.perlentaucher.de/buch/andrzej-stasiuk/der-osten.html
Jetzt gehört der Osten bis zur russischen Grenze zur Europäischen Union. Die Nato schützt ihn mit einer erneuten Aufstockung ihrer Streitkräfte. Wenn man nicht daran glaubt, dass Rüstung und Militärpräsenz dem Frieden dienen, bekommt man Schüttelfrost. Es ist kalt dort hinten, wo der Osten stattfindet. Und wo genau beginnt dieses Territorium der Wölfe und des ewigen Eises?
https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/steinmeier-ungewohnt-laut
Texte funktionieren sehr oft über das Verharren, Warten, das Hin- und Herschleichen entlang einer Grenze, die das Lebendigsein vom Nichtlebendigsein abtrennt. Horrorszenarien beschreiben, wie das Tote die Richtung ändert und zurückkehrt. Wenn ein Wolf die Autobahn überquert und schließlich den Bahngleisen folgt, bis er irgendwo im Prenzlauer Berg herumsteht und kleine Hunde verschlingt, hat sich ein Weltenwanderer aus der angestammten Mythologie in den Alltag der Großstadt verirrt. Er kommt nicht allein. Er schleppt die besoffenen Gespenster ostdeutscher Wendeopfer in seinem räudigen Pelz herum, sie stinken bis heute nach der Schweinegülle aus den volkseigenen Kombinaten für die industrielle Tierproduktion.
Das ist lange vorbei. Aber warum packt Schimmelpfennig im Frühling 2016 ein Buch aus, in dem es um dieses winterliche Geistertheater von vor über zehn Jahren geht? Weint er um die toten Seelen der verendeten Gespenster aus dem Osten? Hat er sie gekannt? Hat er überhaupt irgendjemanden aus dem Osten gekannt? Sein Roman spielt in meiner Straße. Der Ort des Settings ist mein Nachbarhaus. Dort wohnt meine Freundin. Hat Schimmelpfennig in unserer Straße recherchiert? Hat er hier Knochen von eingegrabenen Ostversagern entdeckt, Wolfsgeruch unter den Pflastersteinen identifiziert? Woher kennt er das alte Paar, das in seiner Geschichte die eigene Scheiße im Ofen verbrennt wie die Unterweltgnome in einem tatarischen Märchen?
Ich bin Berlinerin. In dieser Stadt fand meine Kindheit statt. Damals lebten alte Arbeiterfrauen im Prenzlauer Berg, deren Männer sich mit der Gestapo angelegt hatten. Die Keller waren endlose Labyrinthe und verbanden unverbundene Grundstücke. Oben glichen die Höfe den Rückständen Babylons oder großen, abgeschirmten Parks. Großfamilien von Katzen feierten den Frühling. Hier sind wir der Stasi davongelaufen und trafen sie dann überraschenderweise zu Hause im eigenen Bett. Hier haben wir auf den Dächern gesessen und auf den Wolf gewartet. Aber er kam nicht. Er hat gewartet, bis der Prenzlauer Berg nicht mehr der Prenzlauer Berg ist. Oder etwas Neues unter dem gleichen Namen. Meine russischen Freunde sagen, dass es ihnen gut gefällt. In Moskau gibt es jetzt ähnliche Ecken: Man fühlt sich wohl, man spaziert entspannt zwischen den Kaffeehausgästen hindurch.
Aber warum schleppt Schimmelpfennig die ostdeutschen Zombies in diese schwäbisch-westdeutsche Sonntagswelt, wo die Kinder lachen und die Kirchenglocken das Gefühl von westlicher Kulturheimat stabilisieren? Fühlt er sich bedroht? Er ist der meistgespielte Theaterautor Deutschlands. Er stammt aus Göttingen, aber er hat auch schon früher über den Prenzlauer Berg geschrieben, er kann jeden Straßenzug benennen, kennt die Hauseingänge und die Treppenhäuser, weiß sehr viel über die Farben und über die Gerüche. Allerdings ging es bei ihm auch früher bereits um Tote, die verendet waren, ohne es selbst auch nur zu registrieren.
Wovor hat Schimmelpfennig Furcht? Oder ist er im Gegenteil der Ansicht, dass ich mich fürchten sollte, weil vieles dafür spricht, dass ich in Wirklichkeit ebenfalls aus dem Land der Untoten stamme? Weil ich im Osten geboren bin, durch den Osten gereist bin, dort gearbeitet habe und immer noch im Osten feststecke? Die einzige Person in seinem Roman, die von etwas mehr als von einer instinktiven Herumschleicherei dominiert ist, stammt aus dem Westen. Es ist ein alternder, übergewichtiger Künstler. Er ist absolut unsympathisch, aber außer ihm hat niemand irgendeine Art von echtem Motiv oder auch nur den matten Abglanz einer Seele. Gruselt sich Schimmelpfennig vor ausgehungerten Geisterwölfen aus dem Osten? Beschäftigt er sich deshalb in seinem Roman so intensiv damit, sie umzubringen? Warum gruselt er sich, wenn er an den Prenzlauer Berg denkt, den er doch besser kennt, als irgendjemand sonst?