Grün überwachsener Drahtzaun

Kritik zu Judith Hermann: Lettipark

Blätter, Regentropfen, Beeren. Es gibt keinen Grund, ein Loch in den Zaun zu schneiden.

http://www.fischerverlage.de/buch/lettipark/9783100024930

https://www.perlentaucher.de/buch/judith-hermann/lettipark.html

Wenn sich einer draußen herumtreibt, geht es nur noch darum, wie er ohne Amputation zurückkommt.Ein Mann und eine Frau erreichen Odessa. Sie kommen mit dem Zug, es spielt eine wesentliche Rolle, ob sie während der Fahrt schlafen konnten oder nicht oder ob sie nur vorgeben, schlaflos im Käfig des Zugabteils den Transport zu überstehen. Das Abteil und der Zug sind mit den Signaturen des Ostens versehen: verschlissener Gobellin, Stapel aus harten Kissen, übergroße Riegel aus Zucker. Draußen unbekannte Landschaft, was denn sonst.

http://www.deutschlandfunk.de/ukraine-odessa-in-der-identitaetskrise.1242.de.html?dram:article_id=346933

Odessa ist eine unsichtbare Stadt. Dunkelheit herrscht auf Straßen und Höfen, kein Geruch nach Meer, keine Signaturen von Isaak Babel, keine Straßenbahnen, ein Ort der Leere. Um hier zu übernachten, wählt das Paar aus einer Reihe aufgestellter Omas diejenige alte Frau aus, von der sie glauben, dass ihr die Verwandtschaft mit Baba Yaga zumindest nicht auf die Stirn gedruckt ist. Es ist natürlich ein Irrtum. Die Oma schleppt sie in ein abscheuliches Barackenlager, bewohnt von Schimmel, Dreck und Prostituierten. Die Oberaufsicht liegt in den Händen einer unappetitlichen Puffmutter. Der einzige Ausweg ist die Flucht. Irgendwie entsteht ein Moment unausweichlicher Verzweiflung. Der Mann möchte das Meer erkunden, die Frau verschließt sich auf dem Bahnhof in einem privaten magischen Kreis.

Ich habe es gestern gekauft und in der unaufgeräumten Küche durchgelesen. Jetzt schicke ich es meiner Freundin, wir schicken uns die Bücher von Judith Hermann, hin und her, wir reden ein wenig über die Texte, dann schicken wir sie wieder auf die Reise. Diese Bücher sind ruhelose Objekte, wie die Figuren, die über ihre Seiten schwimmen: selten friedlich unter einem Baum und noch seltener wirklich unterwegs. Wohin auch immer sie gelangen, wenn es sie über die Oberfläche irgendeines Raumes treibt, sie schaffen es nie ans Ufer und ihr Blick verharrt wie in einem U-Boot auf den Innenwänden des immer erneut reproduzierten Designs einer bürgerlichen Küche.

http://www.sueddeutsche.de/kultur/neuer-erzaehlband-von-judith-hermann-dieses-kreiseln-um-belangloses-geht-leicht-auf-die-nerven-1.3010404

Judith Hermann hat ein unerschöpfliches Reservoir an Vornamen für die Spaltprodukte der postdemokratischen Persönlichkeit. Ich frage mich, wo sie sich hier bedient. Oder arbeitet sie wie Ernst Jandl mit einem Zufallsgenerator? Wenn ich ihre Romane lese, gelingt es mir, mich daran zu gewöhnen. Bei Kurzgeschichten strengt es an. Einmal wird die Namensvergabe selbst zum Gegenstand. In einer typisch eingeengten, drahtzaunverspertten Perspektive streift das Auge der allwissenden Erzählerin über die Fahrt eines adoptionswilligen Paares in ein namenloses Kaff in Russland. Auch hier bleiben die Eingeborenen eine eher an Fauna und Flora erinnernde Erscheinung: Kellnerinnen wachsen an den Wänden des Restaurants wie die Pilze, die Mitarbeiter des Kinderheims tauchen gar nicht erst auf. Als das Paar dann tatsächlich ein Kind im Gepäck hat, erhält das Kind ein angemessenes Etikett: Es bekommt einen neuen Namen.

Judith Hermann ist eine Meisterin im Zuschnitt der Innenauskleidung der jeweiligen Isolierstation ihrer Figuren. Wenn es sich nicht um den Osten handelt, kann das barocke Verzierungen aufnehmen und im Aufeinanderkleben der Einzelheiten die Sinne reizen, bis man sich nach Putzmittel oder Säure sehnt. In der Kritik fällt dabei der Begriff der inneren Schönheit, bezogen auf die Tiefe der Protagonisten. Ich habe Vorbehalte. Mir liegt das Fahrige, Konturlose, Unkomponierte. Ich lasse mich am liebsten treiben, wenn ich lese, je weniger Mitteilung in der Oberfläche der Bedeutungen, desto besser. Wenn mir dann trotzdem etwas auffällt, bin ich glücklich. Wenn jede Spieglung auf den Wellen eines imaginären Gewässers ihren Platz hat und ihren Anteil am Zusammenklang des Ganzen, bin ich ungeduldig, unkonzentriert, empfinde leichte Übelkeit. Wenn ich Judith Hermann lese, denke ich oft an Thomas Mann. Ich weiß nicht, ob ich damit allein bin und auch nicht, ob das wirklich ein Kompliment ist.