Der Selbstmord der Nation in Belgrad

Die mit dem Balken auf der Brust sind die Frauen, die sich exzessiv der Abtreibung hingeben.

Erst geht es gar nicht los, sie stehen herum, als ob sie warten. Machen sich irgendwie Mut. Dann steigen sie aufs Kreuz. Wenn man sich kreuzigen lässt, erhält man mit genügend Glück einen Lichtkreis um den hin und her geworfenen Schädel. Die auseinander gezerrten Arme hängen an der Wand. Die Musik jault grässlich. Dann kriecht sie wie eine Schnecke in eine lächerliche Choralimitation zurück, bis sie im allgemeinen Lärm erstickt. Im Bitef-Theater in Belgrad geht es um Gewalt. Gewalt gegen Frauen, Gewalt gegen Kinder, Gewalt gegen alle, Gewalt als rituelles Spiel. Die gekreuzigten Figuren an der Wand sind der gewalttätige Jedermann, der mordend durch die Trümmer robbt und sich dabei selbst als Opfer der Zivilisation beweint. Er hasst, was er für zeitgemäß und modern hält: Hedonismus, Egoismus, individuelle Abweichung, kurz das übliche Inventar, das den Hassgestalten in der aufgerüttelten Gegenwart als so grenzenlos (im wahrsten Sinne des Worte) hassenswert erscheint.

http://teatar.bitef.rs/2015/05/26/18-19-i-20-april-crvena-sex-i-posledice-premijera/

http://festival.bitef.rs/2015/09/03/bitef-zone/

Das eigentliche Thema ist der Abort. Der Abort als unsichtbare, täglich ausgeübte Gewalt, sich selbst angetane Gewalt, auf andere übertragene Gewalt, als Organisationsprinzip einer auf Gewalttätigkeit beruhenden Gesellschaft. In einem ausschließlich von Männern gespielten Stück sträubt sich das Empfinden, überhaupt darauf einzusteigen. Der Saal in der ehemaligen Kirche in Belgrad ist ausverkauft, obwohl die Produktion bereits ein Jahr lang läuft. (Damals habe ich einen Sturm aus Wut und Begeisterung erlebt.) Ich sehe eine überwältigende Mehrheit von Frauen. Anders als bei vielen Berliner Produktionen fehlt es hier in Belgrad an einem bequemen Gerüst von Deutlichkeit und einfacher Polarisierung. Tatsächlich ist die Abtreibungsquote in Serbien sehr hoch, gerade unter den ganz jungen Frauen. Tatsächlich sind die gesundheitlichen Risiken für die Frauen schwer zu übersehen, denn es fehlt an Beratung und Aufklärung und vor allem an Unterstützung. Es gibt weder vorher irgendeine sinnvolle Information über Verhütung, noch hinterher irgendeine Begleitung durch das erlebte Trauma. Es gibt Initiativen, die sich dafür stark machen.

Der Irrsinn der Inszenierung besteht darin, dass sie in 90 Minuten vorführt, wie eine notwendige Diskussion außer Kontrolle gerät und die bizarrsten Argumente Emotionen wecken, von denen niemand glaubte, dass er/sie überhaupt davon infiziert ist. Dabei wird vorne keineswegs auf die argumentative Verdrehung gesetzt, es handelt sich nicht um reflexives Theater, sondern um eine rasante Show mit zum Teil haarsträubendem Material an Bildern: Die „Frauen“ führen einen geradezu orgiastischen Tanz auf, während sie an den Krankenhauströpfen hängen. Die „ermordeten Kinder“ sind ausgewachsene Männer, die aus den Armen ihrer „Mütter“ hart auf den Boden stürzen und sich Minuten später gegenseitig in einem „Feuergefecht“ (repräsentiert durch Blumenwasserspritzen) erledigen. Aber darauf kommt es an: Fötaler Tod durch Abtreibung ist verwerflich, heroischer Mordrausch führt zu Unsterblichkeit und Ruhm – siehe oben: heilige Helden.

Also: Warum nicht Kinder kriegen in Serbien? Kinder sind klein. Sie essen wenig. Du hast keine Arbeit, du hast viel Zeit. Warum nicht Zeit für Kinder opfern, wenn es so viel Zeit gibt. Du siehst keine Perspektive? Dann höre auf, abzutreiben und werde Mutter. Die Kinder sind die Perspektive, die zählt. Du bist traumatisiert? Das ist vollkommen normal, die Medizin kennt sich da aus. Ein Trauma ist ein Trauma, nichts besonderes. Und dann mischen sie in diesen zynischen, pseudowissenschaftlichen Diskurs ein paar reale Zahlen: (nicht fiktiver) Mord an Frauen in den Familien, (nicht fiktiver) Mord an (geborenen) Kindern in den Familien, Zahl der allein gebliebenen Kinder, weil die Eltern verrückt oder kriminell oder krank geworden sind. Oder weil sie sich gegenseitig umbringen in dieser Phase des „Selbstmordes der Nation“. Es ist ganz klar, dass hier die Verzweiflung zu sehr schwarzen Scherzen führt und kaum einer/eine im Zuschauerraum kann wirklich darüber lachen. Aber es wirkt wie eine Reinigung und am Ende ist man seltsam dankbar. Es war grauenhaft, aber es hat sich gelohnt.

Abflug verpasst

„What the Fuck am I doing here“ – Mikser House in Belgrad

Als ich am Donnerstag Abend in Belgrad eintraf, wirkte die Stadt, als sei gerade die Pest ausgebrochen. Ein paar vereinzelte Autos unter der weltraumfähigen Weihnachtsillumination,keine Menschen. Ein einsames Brathuhn in einem Kasten. Das Brathuhn hat definitiv die letzte Chance zum Abflug verpasst. Sonst sind nur die Männer geblieben, die sich in einem Internetcafe vor den Bildschirmen drängen. Hier spricht man Arabisch und die Zeit ist eingefroren: Es gibt kein Vorwärts und kein Rückwärts. Es gibt nur das zermürbende Warten und die Hoffnung auf Skype und auf ein Gespräch mit den Menschen außerhalb von dieser Blase. Wenn sie denn noch leben und wenn es ihnen gut geht. Weihnachten oder Neujahr gehören aus dieser Perspektive gleichermaßen auf den Mars.

In Serbien ist Weihnachten eigentlich nicht besonders wichtig. Und man feiert es auch erst im Januar 2017. Also nicht Weihnachten, sondern Neujahr. Aber trotzdem: So viele Lichter über leeren Straßen. Für wen? Die Verschwendung umfasst über tausend Lichtelemente auf 20 Kilometern, mehr als je zuvor, an vielen Orten, die vorher bescheiden im Dunkeln blieben und nichts weiter waren, als Straßen, in denen Leute lebten. Belgrad sieht sich zunehmend als alternative Variante von Berlin. Manches ist sehr ähnlich: eine Stadt, die sich aufplustert, um zahlende Gäste anzuziehen und zu beeindrucken und dabei vergisst, dass sie Einwohner hat, für deren gute Stimmung Wohnungen, Schulen, Parks und Schwimmbäder eine Rolle spielen. Keineswegs so schön wie Venedig, aber ähnlich geplagt.

Die Belgrader Stadtregierung freut sich auf einen Tourismuszuwachs von 20 Prozent zum Jahresende. In der Mitteilung der öffentlichen Verwaltung heißt es, dass man deshalb alles leuchten lässt, was leuchten kann. Was noch niemals als besonders hell oder strahlend auffiel, war das Bahnhofsviertel und die dahinter liegenden Quartiere der Roma. Letztere sind inzwischen ganz einfach verschwunden. Die Roma sind unsichtbar oder weg. Hier ist ein riesiger Einkaufskomplex geplant. Für die Gäste der Stadt, nicht für die arbeitslosen Bewohner der angeräudeten Häuser, deren Fassaden zwischen uralten Heizungsrohren zerkrümeln. Die ersten Bagger sind bereits an der Arbeit. Belgrad stilisiert sich zur Metropole. Das ist das Selbstverständnis der Stadt, denn jahrzehntelang war sie Hauptstadt, Hauptstadt des nicht mehr existierenden Jugoslawiens.

Metropole heißt in der ironischen Brechung des unabhängigen Theaterkollektivs Mikser House, dass es notwendig wird, sich von der umstrittenen Muttersprache SKB (Serbisch Kroatisch Bosnisch) zu lösen und die Inhalte auf Englisch zu präsentieren. Wer das verpasst, wird ganz einfach nicht gehört. Oben im Studio des Jugoslawischen Dramatheaters gibt es eine einstündige Reise in das Land der postdramatischen Performance und es geht darum, dem Brathuhneffekt zu entkommen: Wer jung ist und eine Ausbildung hat, möchte weg, solange es noch geht und am besten sofort. Die Arbeitslosenquote in Serbien beträgt knapp 18 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit übersteigt die 50 Prozentmarke. Es gibt ein paar Berufe, auf die das Bild nicht zutrifft: IT-Ingenieure, Juristen. Die Performer sprechen über sich, und sie sind alle Künstler. Eine lebt im Ausland, die anderen sind ohne Arbeit. Das heißt, sie arbeiten, aber umsonst. Kommt uns das irgendwie bekannt vor?

http://jdp.rs/predstave/what-the-f-k-are-we-doing-here/

http://house.mikser.rs/

Der Balkan gilt als sicher. Wer einfach so verschwinden möchte, kommt zurück, denn er wird abgeschoben. Das gilt nicht für die gut ausgebildeten Absolventen gefragter Studienfächer. Wie sie es machen, ist nicht immer klar, aber sie gehen. Serbien blutet aus. Wenn die Sonne auf die Cafes scheint, wimmelt es von Menschen. Vor allem die jungen Leute trinken ihren dritten, vierten, fünften Espresso. Im November, mitten in der Woche. Am Abend geht man aus, irgendwie, ohne Geld. Arbeit hat kaum jemand, am Morgen kann es ohne weiteres auch lange dauern. Arm aber sexy. Aber definitiv zu arm für irgendeine Art von Zukunft.

Das ist der Grundton der Inszenierung. Das Straßenbild stimmt mit dieser Stimmung überein. Die Gespräche mit den Studentinnen und Studenten stimmen mich traurig. Niemand glaubt an irgendeine Verbesserung in der Zukunft. Die Regierung verkauft uns, egal wie sie gerade heißt und woraus sie gerade besteht. Das stimmt: Die Regierenden verkaufen ihr Land an zahlungswillige Investoren, unabhängig davon, was die im Einzelnen planen oder treiben.

Und doch gibt es diese etwas träge, mich immer wieder irritierende Selbstvergewisserung auf der nationalen Schiene: Wir sind die Opfer, wir werden von einer Lügenkampagne schlecht gemacht, schaut euch die NATO-Ruinen in unserer Stadt an. Wir fahren zu den Deutschen, weil wir es hier nicht mehr aushalten können, aber dort in Deutschland herrscht der Eiswind: Dort sind sie unpersönlich, herrschsüchtig, kalt. (Dieser Teil hat mich sehr ermüdet. Die ewigen Stereotypen gehen mir inzwischen nur noch auf die Nerven und ihre einzige Funktion besteht in einer suchtartigen, hinterlistigen Verstärkung der Lähmung. )