Weltall – Da ist alles schwarz und rundherum leuchten die Sterne.
Zum letzten Mal: Schere, Faust, Papier in Hamburg
https://www.thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/schere-faust-papier/
Oder haben geleuchtet oder haben als Supernova gestrahlt oder sind bereits zusammengefallen. Außerdem gibt es schwarze Löcher, aus denen nichts herauskommt, vor allem keine Information. Wie es sich so im Allgemeinen mit der Zeit verhält, ist nicht recht verständlich. Jedenfalls geht es nicht sauber linear zu. Man kann sich also vorstellen, „Wolfenstein“ zu spielen, mit Nazis (Version 1) oder ohne Nazis (Version 2). Oder „Schere, Faust, Papier“. Mit Nuklearbomben oder ohne.
Auf die Zeit bezogen schreibe ich rückwärts linear. Wie man es sonst für Premieren tut, bin ich für eine letzte Vorstellung aus Berlin nach Hamburg gefahren. „Schere, Faust, Papier“ von Michel Decar hatte vor etwa einem Jahr in der Inszenierung von Ersan Mondtag Premiere und verschwindet nun zumindest vorerst vom Spielplan. Mich hat es damals nicht besonders interessiert, weil ich damit beschäftigt war, möglichst viele Performancekünstler anzusehen, bis es mir letztlich aus den Ohren herauskam. Die Hamburger müssen nicht wirklich weinen, gerade hatte eine weitere Regiearbeit von Ersan Mondtag Premiere und sorgt jetzt für kontroverse Kritik und laute Diskussionen unter Theaterbesuchern, auch wenn sie ihre Zeit eigentlich in einem anderen Stück verbringen (Jelinek oder Ersan Mondtag: Man muss mindestens eins von beiden furchtbar finden, sonst ist man schizophren). Zumindest das ist etwas, was ich schon sehr lange nicht erlebt habe.
https://www.thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/die-orestie/
https://www.abendblatt.de/kultur-live/article212282559/Ich-kann-mit-Freizeit-nicht-umgehen.html
Auch damals waren die Urteile sehr unterschiedlich. Es geht um so etwas wie eine Beta Version der Weltgeschichte: nicht ganz der volle Funktionsumfang, abgespecktes Handlungsspektrum, eingeschränkte Tiefe der Simulation. Darum ging es dann auch in der Kritik. Ob so eine Suppe aus Höhlengleichnis, Steinzeit und Atomschlag ein nichtssagender Mist ist oder eine begnadete Kompilation. Und was die Nazis in dieser Suppe machen, denn die schwimmen auch mit zwischen den anderen Nudeln und Karotten. Und warum das alles im Trichter spielt. Aus dem es physikalisch gesehen bekanntlich über den Abfluss direkt weitergeht in die Kanalisation.
https://www.freitag.de/autoren/stefan-bock/schere-faust-papier
Mir war das eigentlich komplett egal. Es gab einen Text, ja, und der wurde zum Teil meisterhaft vorgetragen. Das ist nun einmal der Unterschied zwischen einer Performance und professionellem Theater. Manchmal kam es mir so vor, als ob da blaue Flauschfiguren die Diktion von Corneille und Racine entfalten. Das war uneingeschränkt genial, unabhängig vom Inhalt. Den Inhalt habe ich mehr oder weniger vergessen. Es gab da ein paar Anker, die der Erinnerung wert sind. Dass sich die Mon Chi Chis ihrer Sorglosigkeit vergewissern, wenn es wieder einmal von außen „kratzt“, was wohl bedeutet, dass irgendein ungenannter Gegner Atombomben wirft. „Sollen sie ruhig schmeißen“, das war wie im Film oder wie im Spiel. Und das Geschnatter zum Menschenopfer, das hat mir gefallen. Und eigentlich hat mir auch gefallen, dass es alles in Unsinn mündet, zum Beispiel in einen grotesken Umzug, wenn es Zeit für ein neues Reset ist oder ein spaßiges übereinander Stapeln und Sex Imitieren oder einfach nur das viele, pausenlos Herumhüpfen. Dazu gehört dann auch, dass ein Mitarbeiter das leuchtende Ausgangsschild für den Fluchtweg mit dem Besen zuhält, wenn sich die Bühne verdunkelt. Besen und Handarbeit zur Vervollkommnung der Apokalypse.
Es gibt ein paar Übergänge in das Reich der ernsthaften Dystrophie. Margaret Atwood hat für ihren Alptraum „MaddAddam“ so etwas ähnliches wie Mondtags Bühnenwesen erfunden, nur wesentlich schräger und verrückter und vor allem konsequenter. Da steckt eine abgrundtiefe Nachdenklichkeit über die Natur von Intelligenz und biologischer Trägersubstanz dahinter, wer sich darauf einlässt, bekommt schlaflose, schlimme Nächte. Oder der „Zeitnager“ (und andere Arbeiten) des Videokünstlers und Spieledesigners Ondrej Svadlena. Hier trägt das Mischwesen aus Biologie und Programmcode eine altmodische Schultasche durch die Abgründe der Zeit, genial gemacht, ernsthafter, gar nicht lustiger Horror über das, was ist und das, was sein wird.
http://cinema.arte.tv/de/artikel/der-zeitnager-von-ondrej-svadlena
Damit kann man eigentlich kaum konkurrieren, man kann auch nicht darüber lachen. Aber wenn man es mit einer Schicht von reinem, klassischen Theater überzieht, dann entsteht eine sehenswerte, ungewöhnliche Kreation.