Mon Chi Chi im Weltall: Ersan Mondtag in Hamburg

Weltall – Da ist alles schwarz und rundherum leuchten die Sterne.

Zum letzten Mal: Schere, Faust, Papier in Hamburg

https://www.thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/schere-faust-papier/

Oder haben geleuchtet oder haben als Supernova gestrahlt oder sind bereits zusammengefallen. Außerdem gibt es schwarze Löcher, aus denen nichts herauskommt, vor allem keine Information. Wie es sich so im Allgemeinen mit der Zeit verhält, ist nicht recht verständlich. Jedenfalls geht es nicht sauber linear zu. Man kann sich also vorstellen, „Wolfenstein“ zu spielen, mit Nazis (Version 1) oder ohne Nazis (Version 2). Oder „Schere, Faust, Papier“. Mit Nuklearbomben oder ohne.

http://www.deutschlandfunkkultur.de/aus-den-feuilletons-anti-nazi-ballerspiel-ohne-shoa.1059.de.html?dram:article_id=400578

http://www.taz.de/!5453466/

Auf die Zeit bezogen schreibe ich rückwärts linear. Wie man es sonst für Premieren tut, bin ich für eine letzte Vorstellung aus Berlin nach Hamburg gefahren. „Schere, Faust, Papier“ von Michel Decar hatte vor etwa einem Jahr in der Inszenierung von Ersan Mondtag Premiere und verschwindet nun zumindest vorerst vom Spielplan. Mich hat es damals nicht besonders interessiert, weil ich damit beschäftigt war, möglichst viele Performancekünstler anzusehen, bis es mir letztlich aus den Ohren herauskam. Die Hamburger müssen nicht wirklich weinen, gerade hatte eine weitere Regiearbeit von Ersan Mondtag Premiere und sorgt jetzt für kontroverse Kritik und laute Diskussionen unter Theaterbesuchern, auch wenn sie ihre Zeit eigentlich in einem anderen Stück verbringen (Jelinek oder Ersan Mondtag: Man muss mindestens eins von beiden furchtbar finden, sonst ist man schizophren). Zumindest das ist etwas, was ich schon sehr lange nicht erlebt habe.

https://www.thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/die-orestie/

https://www.abendblatt.de/kultur-live/article212282559/Ich-kann-mit-Freizeit-nicht-umgehen.html

Auch damals waren die Urteile sehr unterschiedlich. Es geht um so etwas wie eine Beta Version der Weltgeschichte: nicht ganz der volle Funktionsumfang, abgespecktes Handlungsspektrum, eingeschränkte Tiefe der Simulation. Darum ging es dann auch in der Kritik. Ob so eine Suppe aus Höhlengleichnis, Steinzeit und Atomschlag ein nichtssagender Mist ist oder eine begnadete Kompilation. Und was die Nazis in dieser Suppe machen, denn die schwimmen auch mit zwischen den anderen Nudeln und Karotten. Und warum das alles im Trichter spielt. Aus dem es physikalisch gesehen bekanntlich über den Abfluss direkt weitergeht in die Kanalisation.

http://www.deutschlandfunkkultur.de/schere-faust-papier-in-hamburg-mit-den-pantoffeltierchen-in.1013.de.html?dram:article_id=374302

https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=13436:schere-stein-papier-ersan-mondtags-urauffuehrung-des-stuecks-von-michel-decar-am-thalia-theater-hamburg&catid=38:die-nachtkritik-k&Itemid=40

https://www.freitag.de/autoren/stefan-bock/schere-faust-papier

Mir war das eigentlich komplett egal. Es gab einen Text, ja, und der wurde zum Teil meisterhaft vorgetragen. Das ist nun einmal der Unterschied zwischen einer Performance und professionellem Theater. Manchmal kam es mir so vor, als ob da blaue Flauschfiguren die Diktion von Corneille und Racine entfalten. Das war uneingeschränkt genial, unabhängig vom Inhalt. Den Inhalt habe ich mehr oder weniger vergessen. Es gab da ein paar Anker, die der Erinnerung wert sind. Dass sich die Mon Chi Chis ihrer Sorglosigkeit vergewissern, wenn es wieder einmal von außen „kratzt“, was wohl bedeutet, dass irgendein ungenannter Gegner Atombomben wirft. „Sollen sie ruhig schmeißen“, das war wie im Film oder wie im Spiel. Und das Geschnatter zum Menschenopfer, das hat mir gefallen. Und eigentlich hat mir auch gefallen, dass es alles in Unsinn mündet, zum Beispiel in einen grotesken Umzug, wenn es Zeit für ein neues Reset ist oder ein spaßiges übereinander Stapeln und Sex Imitieren oder einfach nur das viele, pausenlos Herumhüpfen. Dazu gehört dann auch, dass ein Mitarbeiter das leuchtende Ausgangsschild für den Fluchtweg mit dem Besen zuhält, wenn sich die Bühne verdunkelt. Besen und Handarbeit zur Vervollkommnung der Apokalypse.

Es gibt ein paar Übergänge in das Reich der ernsthaften Dystrophie. Margaret Atwood hat für ihren Alptraum „MaddAddam“ so etwas ähnliches wie Mondtags Bühnenwesen erfunden, nur wesentlich schräger und verrückter und vor allem konsequenter. Da steckt eine abgrundtiefe Nachdenklichkeit über die Natur von Intelligenz und biologischer Trägersubstanz dahinter, wer sich darauf einlässt, bekommt schlaflose, schlimme Nächte. Oder der „Zeitnager“ (und andere Arbeiten) des Videokünstlers und Spieledesigners Ondrej Svadlena. Hier trägt das Mischwesen aus Biologie und Programmcode eine altmodische Schultasche durch die Abgründe der Zeit, genial gemacht, ernsthafter, gar nicht lustiger Horror über das, was ist und das, was sein wird.

http://cinema.arte.tv/de/artikel/der-zeitnager-von-ondrej-svadlena

https://vimeo.com/80706397

Damit kann man eigentlich kaum konkurrieren, man kann auch nicht darüber lachen. Aber wenn man es mit einer Schicht von reinem, klassischen Theater überzieht, dann entsteht eine sehenswerte, ungewöhnliche Kreation.

Auferstanden aus der Familiengruft der Macht

 

Ödipus und Antigone am Gorki

Das Problem der Gespenster ist ihre Unsterblichkeit. Unser Problem besteht darin, dass wir sie normalerweise nicht erkennen. Auch wenn sie uns überall finden. Ersan Mondtag hat sie auf uns losgelassen. Nicht ganz so fürchterlich,wie es Vegard Vinge veranstaltet hätte, aber es hat gereicht.

http://gorki.de/de/ensemble/ersan-mondtag

Klar hätte ich Lust, ebenfalls zu beschreiben, was es da zu sehen gab. Obwohl ich ganz hinten sitzen musste, denn es war hoffnungslos ausverkauft. Neben mir hockte ein grauhaariger Freund der klassischen Antike und stöhnte vor sich hin. Meiner Freundin ging es nicht besonders gut. Vor uns verabschiedeten sich zwei Frauen und widmeten sich für den Rest des Abends ihrem Facebook. Und es gab auch die, die rausgerannt sind und sich wahrscheinlich erst später beim Bier wieder irgendwie erholten. Natürlich war es eine Zumutung. Aber als Zumutung war es ziemlich genial. Normalerweise überfällt mich während des Theaterabends ungefähr in der Mitte der zwanghafte Wunsch, irgendetwas auszurechnen: den Tagesetat, das Monatseinkommen, die nächste Steuer. Gerne auch mit dem Handy. Diesmal blieb ich diszipliniert. Ich hatte keine Zeit zum Rechnen. Das übliche Loch der Langeweile blieb aus.

Dann habe ich gelesen, was die anderen so gesehen hatten. So in etwa fast das gleiche wie ich:

http://www.tagesspiegel.de/kultur/oedipus-und-antigone-am-maxim-gorki-theater-slapstick-der-antike/19410622.html

http://www.berliner-zeitung.de/kultur/theater/theaterkritik–oedipus-und-antigone—-ein-familiaeres-greisenkabinett-25765630

https://www.freitag.de/autoren/kulturblog/oedipus-und-antigone-am-gorki-theater

Ersan Mondtag veranstaltet eine Totenbeschwörung. Rosarote Zombiegeister stolpern (wahrscheinlich nicht zum ersten Mal) durch den stark verwehten Text von Sophokles. Es gibt ein weißes Bretterhaus (irgendwie zwischen amerikanisch und unserer Gartenlaube in Berlin-Buchholz), es gibt Fenster zum Rein- und Rausglotzen, es gibt eine Rampe, es gibt den Soundeffekt. Der Soundeffekt hat mich gepackt. Der Hall des Mörderspiels durch die endlosen Wüsten der Zeit. Zweieinhalb Jahrtausende Totschlag und immer noch hört man das Jaulen dieses einen Desasters. Warum? Warum hat Sophokles sein Genie benutzt, um gerade dieser Clique aus Theben ein ewiges Denkmal zu errichten?

Die haben zwar noch mitgemacht, als es gegen Troja ging, aber etwas näher an der Gegenwart von Sophokles wird es verworren: Während die guten Griechen an den Thermopylen ihr Leben für die Freiheit ließen, paktierte Theben mit den Persern. Unser wichtigster Wert (doppelt freier Lohnarbeiter, freie Mitarbeiterin, Meinungsfreiheit, Freihandelsabkommen) war der Clique aus Theben egal. Im griechischen Kulturkreis gab es dafür die Auslöschung der Erinnerung. Archäologen und Althistoriker zerbrechen sich deshalb den Kopf. Sophokles macht aus den Thebanern Monster. Ganz im Sinne von Aristoteles: Jammer, Furcht und Schrecken. Mondtag macht aus den Monstern Zombies. Das kann mein zeitgenössisches Herz sehr gut verstehen. Den ganzen Staub mit Schuld, Katharsis und Reinigung durch gegenseitiges Abschlachten kann man löschen. Es gibt kein Ritual. Es gibt keinen Ziegenbock, den man solange auspeitscht, bis er in die Wüste davonrennt. Es gibt kein stellvertretendendes Menschenopfer. Es gibt den realen Krieg. Er tobt vor unserer Tür und frisst, was ihm vor das Maul kommt: Frauen, Kinder, Männer, Hunde. Geschichte und Palmyra. Die phönizische Kultur. Das in den Kreuzzügen belagerte Aleppo. Und wir leben in einem Land, das die hierfür benötigten Waffen bereitstellt.

In den Kommentaren bekennt sich Ersan Mondtag zu einer politischen Intention. Das ist fast selbstverständlich. Sophokles ist politisch. Das rituelle Theater in der griechischen Polis war politisch. Das reale Theben liegt sehr nah am realen Krieg.

http://www.deutschlandradiokultur.de/antigone-und-oedipus-auflehnung-gegen-das-herrschende-un.1008.de.html?dram:article_id=374964

http://www.renk-magazin.de/ersan-mondtag-meine-arbeit-ist-politisch-weil-ich-selbst-politisch-bin/

Zwei Tage nach dem Besuch der Vorstellung zieht mir neben meinen von der Geschichte infizierten Gedanken noch immer der zerfetzte Text durch mein Gedächtnis. Ich denke, dass es richtig war, ihn zu so zu behandeln. Aber das, was übrig geblieben ist, überfällt die Zuschauenden immer noch mit der Gewalt einer beserkerhaften Ästhetik: lächerlich gemacht, vorgeführt, durchleuchtet und trotzdem noch immer unantastbar schön. Wie der Alkohol, von dem man weiß, dass er einen Kater erzeugt. Sophokles macht selbst in Bruchstücken noch gefährlich besoffen.