Proton Theater: Winterreise (Kritik)

Kein Eingang: Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten

Hebbel am Ufer Dezember 2017

https://protontheatre.hu/performance/winterreise

http://www.hebbel-am-ufer.de/programm/spielplan/kornel-mundruczo-winterreise/

Irgendwo dort in Ungarn steht ein abgeschabtes Haus in der Nähe der Autobahn. Vor einigen Monaten oder inzwischen vielleicht sogar Jahren schliefen da junge und alte Männer auf durchgelegenen Matratzen unter einem niedrigen, nahezu erdrückenden Dach. Zwischen ihnen lebte eine alte Frau. Sie war die einzige Frau, deren Bild im Kunstprojekt auftaucht. Wir sehen, wie sie unendlich müde, und doch ebenso unendlich weit von jeder erlösenden Entspannung entfernt auf einem Kopfkissen liegt. Sie trägt ihr Kopftuch wie einen Schal, der sie wenigstens etwas schützen könnte. Wenn es denn noch Schutz gibt auf diesem letzten Wegstück, das ihr bevorsteht.

http://www.mousonturm.de/web/de/veranstaltung/die-andere-winterreise

So gern wüsste ich mehr über diese Frau. Das ist das Manko an dieser sonst sehr starken Performace – oder vielleicht besser Aufführung, denn es ist mehr als ein weiterer Mosaikstein im Gesamtkunstwerk des nichttheatralischen Theaters – diejenigen, um die es geht, bleiben in der Namenlosigkeit verloren. Wir sehen ihre Körper, wir sehen Ausschnitte ihres Lebens unter dem hyperrealistischen Brennglas der wirklich ausgezeichneten Videosequenzen, doch es fehlt die Zuordnung zu ihrer individuellen Persönlichkeit. Es gibt keinen Rollenzettel und keinen Abspann, der sie als Unterstützer festhält. Es leuchtet mir ein, wenn ich es als Element des Gesamtkonzeptes begreife. Aber es zerstört die Balance. Gesang, Regie und Musiker haben einen Namen. Die, um die es geht, verschwimmen zu den anonymen Trägern eines erst durch die Kunst in die Sichtbarkeit gebrachten Materials.

Wenn ich damit beginne, dann liegt es an meinem Wunsch nach der Teilhabe an dem perfekten Kunstwerk. Das, was ich gestern gesehen habe, kommt einem solchen Ereignis in meiner Wahrnehmung sehr, sehr nahe. Eigentlich würde es mir niemals einfallen, mich in einen Konzertsaal zu setzen und dort die „Winterreise“ von Schubert anzuhören. In der Produktion des Proton Theaters hat sich jedoch diese Musik (1827) und mit ihr der Text von Müller (1826) auf ganz unerwartete Art erschlossen. Tatsächlich gibt es im Werk von Schubert immer wieder einen Bezug zu Ungarn. Somit ist es folgerichtig, den Durchzug der von der Flucht in die Heimatlosigkeit getriebenen „Reisenden“ an der „Winterreise“ zu spiegeln und künstlerisch zu verdichten. Es entsteht ein Energietransfer, ein geradezu unglaublicher Lichtbogen der Bedeutung. Die ohnehin schwer zu ertragenden Bilder der Wanderungsströme fallen in Müllers Texten einer Vereinfachung anheim, die sie letztlich verständlicher macht, als jede analytische Erklärung.

http://www.gopera.com/winterreise/songs/cycle.mv

Die Musik von Schubert unterwandert die konstruierte Sinnumgebung der einfachen Bilder, eine Nervosität breitet sich aus, die jenseits des rationalen Zugangs auch am nächsten Tag und wahrscheinlich auch noch in der nächsten Woche weiterbesteht und die Anmaßung besitzt, von der Alltagsroutine Besitz zu ergreifen: Weihnachtsirrsinn, Straßenbahnen, Krähenschwärme, der eigene Kühlschrank. Was, wenn es uns allen über Nacht genommen wäre? Was, wenn wir irgendwo auf der Autobahn im ungarischen Niemandsland unsere Kinder an den Kilometerzählern vorüber schleppen müssten? Das fremde Dorf in der Nacht zu durchqueren ist gefährlich („Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten“), schlimmer ist jedoch, welchen Schmerz es hervorbringt: Nicht dazuzugehören, niemals einzukehren, zu wissen, dass es weder Rückkehr, noch Ankunft geben kann. Und bei aller Bitterkeit und Wut über die Anordnung der Wirklichkeit, die hinter einem solchen Absturz in die Katastrophe steht, bildet sich ein hauchdünner, farbenfroher Film von Ironie. Die Verfremdung durch den Bruch an der frühromantischen Musik wirkt wie die schwache Polarisierung, mit der eine Käferpopulation einen Leuchtstrom hervorbringt: sichtbar in der Finsternis, nicht nur für das eigene Auge oder für die Augen der mitgewanderten Verwandten.

So großartig das Konzept ist, war es doch vor allem ein Abend der Akteure. János Szemenyei agiert vor der durchgesessenen, abgehäuteten Leiche eines Kunsledersofas in einem persönlichen Reenactment die Stationen durch, an denen das Ich des Wanderers jeweils eine weitere Schicht der Schutzhülle der eigenen Identität verliert. Es wird alles abgenommen und ausgemessen. Es gibt einen einzigen Moment, da eine zweite Person auf der Bühne steht: Der Polizist, dem der Wanderer während der erkennungsdienstlichen Erfassung ausgeliefert ist. Wenn Szemenyei dennoch nie allein bleibt – auch das ist Realität der Flucht – dann liegt das am Fluss der Bilder im Hintergrund. Das namenlose Ensemble der Bewohner des Flüchtlingslagers agiert minutiös die Einzelsequenzen der täglichen Existenz aus: Fitness, Essen, Sprachunterricht (als tödliches Spiel der Galgenmännchen), Verzweiflung, Kraftlosigkeit, Schlafen. Die Videosequenzen sind genial. Die Spannung zwischen der nicht gewährten Ankunft und der besinnungslosen Routine der Eingesessenen, die sich ihrerseits bei jeder Annäherung verflüchtigen und den Kontakt verweigern, findet ein lächerliches, in der Trivialität erschütterndes Bild im Verhalten der schwarzen Katzen. Die Katzen leben in diesem Lager. Wenn die Lagerkinder den Versuch unternehmen, mit ihnen zu spielen, verschwinden sie im Dschungel des Mülls. Nur mit großer Mühe kann man sie einkreisen und unter einer verrosteten Badewanne in Augenschein nehmen. Die Kinder starren sie an. Auf der Bühne ersäuft der Sänger einen Plastikkater im Klo. Das erscheint als akzeptable Konsequenz.

Selten habe ich das Gefühl, dass das, was ich hier aufschreibe, so ganz und gar unangemessen bleibt, denn es ist hoffnungslos flach. Ich meine das als uneingeschränktes Kompliment. Es gab einen Moment, den konnte ich kaum ertragen: Aus der Verzweiflung heraus die Geste des Fingers an der eigenen Schläfe, der Finger ein Pistolenlauf, die Faust der Abzug. Das auf der Videowand von allen mitagierenden Männern nachgestellt: Jedes einzelne Gesicht, jede einzelne Art, die Fassung zu verlieren oder eben doch bis zum letzten Moment zu halten. Und sich damit einem unbekannten Publikum zu stellen, zu dem es im Moment dieser Offenbarung nicht den geringsten Kontakt gibt.

Marta Górnicka: Hymne an die Liebe – Kritik

Chor der Inklusion Zusammenstehen gegen unsichtbare Gegner

Warum sprechen Menschen im Chor? Meine Verunsicherung ist maßlos.Warum sprechen viele Menschen die gleichen Worte in der gleichen Situation? Gibt es überhaupt eine gleiche Situation für mehrere Personen, die gleichzeitig anwesend sind und äußerlich das Gleiche tun? Ist der elfjährige Junge tatsächlich durch den Chor mit der Frau verbunden, die seine Großmutter sein könnte oder möglicherweise sogar ist?

Ich denke an die Kirche. Jeder betet für sich, aber alle gemeinsam. Ich denke an die Aufmärsche meiner Kindheit. Aber das war kein Sprechen, das war Geschrei. Ich erinnere mich an das Gefühl: Ich schreie mit aller Kraft, aber niemand hört mich. Meine Stimme ist irgendwo in der Tiefe des allgemeinen Brummens und schon damals suchte mich die fatale Idee heim, dass ein Massenaufmarsch mit Geschrei Einfluss auf das Wetter haben könnte und den Insekten das Fliegen schwer macht. Immerhin geht es um Wellen und Interferenz.

Marta Górnicka versammelt in ihren Projekten sehr unterschiedliche Menschen und inszeniert mit diesen von Diversität geprägten Gruppen ein Format, das vielleicht mit Sprechkonzert am besten beschrieben ist. Handlung fehlt, es gibt jedoch zunehmende und abflachende Kurven im Energiefluss der Performance und hin und wieder einen Moment der Individualität, der Augenblick der Abweichung, an den man sich später erinnert. Marta Górnicka arbeitet mit den Elementen von Rhythmus und Musik. Sie verfügt über eine exzellente Ausbildung, weiß sicher sehr genau, was sie tut. In ihrer künstlerischen Biografie ist Robert Wilson erwähnt, das macht manches besser verständlich. Es gibt so etwas wie eine Choreografie, aber das ist eher rudimentär, man könnte es auch als Hin- und Herschieben von Geräuscherzeugern bezeichnen.

http://www.gorki.de/de/ensemble/marta-gornicka

http://www.martagornicka.com/Gornicka/HOME.html

Wenn man liest, was sie macht, ist das Konzept von beeindruckender Klarheit. Sie inszeniert den Chor der Frauen. Sie inszeniert mit Frauen aus Israel und aus Palästina. Sie versammelt Bürger ihres Landes, unabhängig von deren gesellschaftlichem Hintergrund. Professionelle Darsteller arbeiten mit Laien auf Augenhöhe. Gelebte Inklusion: Behinderung hindert nicht mehr an der gleichberechtigten Präsenz auf der Bühne. Das Material entstammt dem Alltag der Akteure und spiegelt ihre jeweilige Verortung in dieser Welt, in der wir wohnen.

http://www.kulturtransfer.eu/index.php?option=com_content&view=article&id=143:marta-gornicka-ein-gespraech&catid=3:theater&Itemid=4

Ich bin ausschließlich auf positive Reaktionen gestoßen, auf überschwängliches Lob. Überall: von der Kulturseite des polnischen Außenministeriums (unter dem Motto „Faithful the Republic of Poland“) bis hin zu Theaterkritik und linker Presse.

http://www.msz.gov.pl/en/foreign_policy/public_diplomacy/news_hpage/the_year_of_the_polish_theatre_launches_in_israel?channel=www

http://www.theaterderzeit.de/2017/03/34822/

https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=11544:m-other-courage&catid=228:staatstheater-braunschweig

Und doch fühle ich mich selbst wie die Tapete in diesem Saal: Alle sprechen, aber ich kann nicht und will nicht, weil es nicht meine Natur ist. Ich empfinde das Sprechen im Chor als gewalttätige Aktion. Als Auslöschung von Differenz, als Verdichtung von Zigarettenkippen und Gebüsch zu einer festen grauen Masse, gut geeignet, um Schienen darauf festzuschrauben. Wenn das auf der Straße passieren würde, während die Leute vorübergehen oder vielleicht auf einem Bahnhof, hätte es für mich möglicherweise noch einen nachvollziehbaren Sinn. Es wäre dann der Schutz der Masse, der Mut gibt. Und dieser Mut wäre nötig, denn die Welt draußen vor der Tür enthält tatsächlich Fanatiker, Nazis, stille Nazis, besorgte Wahrer der Tradition und was weiß ich noch alles an monströser Realität. Aber so? In einem gut geheizten Theatersaal vor gut sortiertem Publikum? Das brav auf der Treppe steht, bis es endlich zum Zuhören eingelassen wird und dann ohne zu murren zuhört?

Oder habe ich es vielleicht überhaupt nicht verstanden? Waren die Leute dort vorne auf der Bühne vielleicht wirklich gemischt und zum Teil vielleicht gar nicht besonders reserviert gegenüber dem ganzen Glaubens- und Nationalmüll, den sie von sich gaben? Haben sie das vielleicht ernst gemeint mit der Rückgewinnung des Landes und dem Wunsch, den Flüchtlingen den Weg zu weisen – egal wohin, Hauptsache raus? Dann hätte ich aufstehen und meinerseits herumschreien müssen und auf der Bühne vorne für Chaos sorgen. Aber das war das Gorki. Niemand kam auf so eine abwegige Idee. Fünfzig Minuten sitzen, hören, sich der Vergewisserung vergewissern, dass die anderen einen schrecklichen Dachschaden haben und demnächst den neuen Weltenbrand anzünden werden. Und vor allem, dass sie nicht dabei sind. Sprechen im Chor über das, was nicht da ist. Was draußen herumschleicht und nicht einmal weiß, dass es mit den eigenen Worten vorgeführt wird. Mich macht das unendlich müde. Nichts bewegt sich. Es ist laut, aber es könnte auch völlig stumm sein. Ein Unterschied existiert nicht. Es ist ein wenig wie auf einer Party: Alle hören die gleiche Musik. Aber es macht nicht lustig und man wird im allerbesten Fall betrunken. Bei „Fear“ von Falk Richter war das anders. Draußen im Bundesland ist es ebenfalls anders.

http://www.schaubuehne.de/de/produktionen/fear.html

http://www.textblog.berlin/