Verschwundene Mönche und vergessener Sozialismus: „Rot oder Tot“ in der Klosterstraße
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Wenn man sich in der Klosterstraße mit dem Rücken an die Betonwand lehnt, hinter der es zum Theaterdiscounter und auch zu den Studios von Constanza Macras geht, blickt man auf die zugebaute Rückwand der ehemaligen Einkaufspassage in der Spandauer Straße. Dort befand sich das Traumland der DDR. Englischer Tee und trockener Weißwein aus Frankreich. Hemden, Röcke, Stiefel. Dort habe ich als junge Frau in den winddurchwehten Durchgängen Schlange gestanden, um einen Blick auf die Objekte meiner Begierde zu werfen. Und hin und wieder habe ich ein Fünftel meines Monatgehaltes als Krankenschwester dorthin getragen, um mit einem Paar italienischer Sandalen herauszuspazieren. Heute rasen die Autos vorbei und die Einkaufsströme fließen von Saturn zu Alexa. Damals, in dieser anderen Galaxie, hatte der einzelne Gegenstand einen nahezu rituellen Wert. Das eine Hemd aus dem Jahr 1974, bei dem dann eines Tages der rechte Ärmel abriss. Die unbezahlbaren Schuhe, in die der eifersüchtige Kater gepinkelt hat, sodass man sie auf die Straße stellen musste, bis sie irgendjemand geklaut hat.
War das schlimm? War das ein Grund, die verdammte DDR zu verlassen und nach Westberlin zu ziehen? War das der Grund für den Abbruch all meiner Beziehungen aus der Jugend? Nein. Auf keinen Fall. Obwohl mir Hemden, Röcke, Stiefel wichtig waren und ich lange darüber nachgedacht habe, wie sie aufgetrieben werden konnten, gab das nicht den Ausschlag. Wäre ich in einem bettelarmen, aber offenen Land dabei geblieben und bereit gewesen, einen Job in irgendeiner entfernten Provinzschule anzutreten? Vielleicht, vermutlich ja. Gestern stand ich zwischen den Ruinenwänden der Klosterkirche, wo natürlich nicht die geringste Spur der Bettelmönche zurückblieb, und starrte durch den Nachthimmel auf die mutierten Machtsymbole aus der Zeit von Walter Ulbricht. Fernsehturm, Hotel Stadt Berlin, der Alexanderplatz mit seinen inzwischen verbauten Achsen. Ich kam aus einem für mein Verständnis verstörenden Stück. Die DDR als spieltheoretischer Ansatz, als Projektionsfläche für einen Gegenentwurf zu dem Jetzt, in dem wir leben. Das ist für mich nicht selbstverständlich. Daran habe ich hart zu nagen.
Es hat mir als Theater gefallen. Sehr reduziert, auch an die siebziger Jahre angepasst, an den Stil der Bühne als Labor und an den strengen, kontrollierenden Blick von Bertolt Brecht aus dem Himmel der theatertheoretischen Autorität. Es riecht ein wenig nach Grotowski. Ausgerichtet auf das Thema, ohne Firlefanz, ohne Spiegelfläche für irgendein subjektives Hineingleiten in die Abgründe von Persönlichkeit oder Seele. Absolut spaßfrei, kein Video, keine bunten Lampen, Musik ausschließlich als zeitgenössisches Dokument. Und das war schlimm genug. Ich habe die traurigen Opfergesänge von Bettina Wegner noch nie ertragen, und wenn ich damals aus Pflichtbewusstsein mit in diesen Kirchen gestanden habe, ging es mir gar nicht gut. Kirche, Kerzen und Bettina Wegner und draußen die Stasitypen – daraus errechnet mein Kopf Stagnation und komplette Beschränkung des Denkens. Das war das eigentliche Problem: die Unfähigkeit, das intellektuelle Rattenloch zu verlassen.
Das Stück beginnt damit, dass die Figuren darüber diskutieren, ob es Sinn macht, eine Mauer zu errichten. Es war ein seltsames Erlebnis. Das hätte tatsächlich zu einem authentischen Reenactment gepasst, vorausgesetzt, es hätte jemals eine Diskussion im Vorfeld des Mauerbaus gegeben. Wo genau gab es die? Oder gab es keine und Ulbricht hatte einen Traum, den er dann von Honecker umsetzen ließ? Haben die in ihren mehrfach versiegelten Geheimnisräumen die Frage des Mauerbaus diskutiert? Hat es unter der Hand Hinweise gegeben? Ich weiß, dass mein Vater tief in der Nacht auf einen Lastwagen stieg, um irgendwo in eine Kaserne einzuziehen und später eine Straße zu sperren – aber welche Straße? Und mit welchen Vorstellungen in seinem Kopf, der ja immerhin nicht zum ersten Mal einen Helm trug. Ich habe keine Ahnung.
Es ging um Brasch und um Wegner. Es ging um Generationenzerwürfnisse innerhalb der Führungsschicht der DDR. Man liest es später nach: Ja, es gab einen bewaffneten Putsch. Honecker hat Ulbricht mit Waffengewalt aus dem Amt entfernt. Die Auffassungen von der Zukunft waren nicht dieselben. Entwickelte sozialistische Gesellschaft als reales Ziel oder Weitermarsch in eine leuchtende Fata Morgana von Kommunismus? Es wirkt so unfassbar absurd aus der heutigen Perspektive. Gleichzeitig ist es aktuell, denn es spielt wie in einem Uhrwerk die Varianten der inneren Zersetzung durch, die jede Machtstruktur am Ende auflöst. Am Ende war es dann völlig egal, weil es absolut niemanden interessierte. Nachdem 4,5 Millionen an Wahlhilfe aus der CDU an die von ihr unterstützte „Allianz für Deutschland“ geflossen waren (Resultat: 48 Prozent), kommen einem die 2,9 Prozent für das Neue Forum wie ein unpassendes Gewürz in der Suppe der deutschen Zukunft vor, sei es nun West oder Ost.
http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/202873/letzte-volkskammerwahl
Bin ich inzwischen eine alte Frau, eine Zeitzeugin mit einem Erinnerungsapparat, der den Status der Bewahrungswürdigkeit verdient? Was bewegt ein Kollektiv von jungen Theaterleuten, diesen Erinnerungspilz als eigene Vergangenheit zu simulieren? Macht das nun eher Hoffnung oder ist es ganz einfach gespenstig? Neben mir saßen zwei Frauen, denen wurde zwischendurch ganz offensichtlich übel: „Diesen selben Mist habe ich auf der Parteischule hundert Mal gehört. Das bringt mich ganz einfach zum Kotzen.“ Sie irren sich. Es ist nicht derselbe Mist, wenn man ihn auf der Parteischule hört und wenn er fünfzig Jahre später in einem Theaterexperiment erklingt. Es ist nicht die gleiche Zukunft.