Andere Ortszeit: Papa liebt die Lebensmittel in der Heimat

„Sportschuhe“ im Drama-Studio Irkutsk

Fünf Stunden Flug aus Moskau sind fünf Stunden Flugzeugverpflegung und fünf Stunden mit dem Atem des Nachbarn im Gesicht und der zusammengedrückten Frisur der Dame im Vordersessel nahezu in der eigenen Plastiktasse. Tief unten brannte in diesem Sommer die Taiga. Maria Wolkonskaja, die Frau des Dekabristen Sergei Wolkonski, benötigte für den Weg von Moskau nach Irkutsk unfassbare 21 Tage. Sie reiste im Schlitten, ohne angemessene Verpflegung, nur hin und wieder trank sie Tee, wenn der Samowar in irgendeiner Poststation gerade geheizt war. Damals und auch heute reist man nicht nur durch den Raum, man durchquert außerdem, für alle Sinne unverkennbar, die Dimension der Zeit. Die ersten Lebensmittel auf dem Boden schmecken nach einem anderen Jahrzehnt. Oder sogar nach einer anderen Welt, die dort, wo man herkommt, vollkommen unbekannt ist.

Bezogen auf die Kultur (und hier vor allem auf das Theater) fällt dieser Unterschied besonders stark ins Gewicht. Man könnte jeder Flugstunde (und dem mit ihr verbundenen Zeitunterschied) in etwa ein Jahr an kultureller Entwicklung zuordnen. Das Trägheitsmoment der provinziellen Verweigerung ist dabei gar nicht mitgerechnet. Auch nicht der grundsätzlich andere Blick auf das Phänomen „Kultur“: Während Maria Wolkonskaja die Taiga mit einem auf den Schlitten gebundenen Klavichord durchquert, wird sie selbst zur Astronautin. Die Grenze zwischen Nichtkultur und Kultur umschließt sie wie eine Kapsel. Nichtkultur ist hier auf eine andere Weise real, nicht nur durch die Präsenz der Wälder. Sie lauert in jedem Zwischenraum, unter jeder Treppenstufe, neben den Straßenbahngleisen und im Schatten der Universität. Und natürlich dort, wo Menschen zusammenkommen, essen, trinken, über Pläne sprechen.

Irkutsk besitzt einen wunderbaren botanischen Garten. Auch dieser Garten existiert im Inneren einer Kapsel. Ihn umgibt eine Übermacht an unstrukturierter Zersetzung, die nicht einmal vor Beton oder Eisenträgern haltmacht. Ich frage mich, welche Art von Heldentum erforderlich ist, um in dieses diffuse Chaos das blühende Paradies eines englisch-russisch-koreanischen Gartenwunders zu implementieren. Zeitfressend, zeitlos schön und wahrscheinlich in ein zwei Jahren zersetzt und weggefressen, wenn der Widerstand auch nur kurzfristig nachlässt. Stalin hatte da wie so oft seine spezifischen Pläne, aber glücklicherweise keinen Erfolg. Die Kapsel hielt es aus.

Nichts zu wollen, ist hier auf eine andere Weise normal. Der Text für das Stück, über das ich schreibe, entstand in Petersburg (Autorin: Ljuba Strizak). Die erste Präsentation erfolgte 2012 in Moskau als szenische Lesung im Teatr Doc. Keine Kostüme, keine feste Rollenzuschreibung, als zentrales Accessoire diente das Telefon. Es zwang die Figuren, zu sprechen, zu lesen, Pläne umzuwerfen, pausenlos, ohne Aussicht auf irgendeine Art von Ankunft. Das passte damals gut zu Moskau. Hier in Irkutsk hat jede Ankunft eine geradezu materielle Konsistenz. Man braucht sich gar nicht vor Augen zu halten, was ein erneuter Aufbruch mit sich bringt. Bezogen auf kulturelle Erscheinungen braucht man von hier aus eine Art Raumanzug. Und das mit den Lebensmitteln wird kompliziert.

https://pluggedin.ru/open/recenziya-na-kedy-centr-dramaturgii-i-reghissury-kedy-narkotiki-i-rok-n-roll-10322

https://gogolcenter.com/we/lyuba-strizhak/

So viele andere Dinge werden problematisch, wenn man in einem Raumanzug herumläuft: reden, spucken, Gesichter erkennen, gemeinsames Saufen, Sex. Kein Wunder, dass Papa wie ein Tennisball gegen die Wand springt, als er endlich wieder daheim ist. Daheim bedeutet wohl in Irkutsk, dass alles andere sehr weit weg ist. Schrecklich dieser Zwang zu Kultur und Verzicht. Freiheit heißt, sich in der eigenen Wohnung als Hauschwein über den Teppich zu wälzen. Das ist so etwas wie eine Anteilhabe am tieferen Sinn des Lebens. Man kann auch Polonaise tanzen, rassistische Witze erzählen, die Ökologiebewegung verarschen oder einfach in den Bus kotzen. Es fühlt sich gut an.

Das Srück „Kedi“ (Sportschuhe) kommt in Irkutsk im Theaterstudio „Novaja Drama“ auf die Bühne, wie in Moskau in einem Keller, vollgestopft mit enthusiastischen Leuten.

https://centr-novaya-drama.timepad.ru/event/1093493/

https://vk.com/novayadrama

Offensichtlich ist es dort egal, wer Regie führt. Man findet nirgends einen Namen, aber ich habe ihn gesehen. Er saß direkt neben mir, es war die Premiere, er war mit der ganzen Seele auf der Bühne bei seinen Spielern. Der Raum ist winzig, nicht nur für das Publikum, das mit angezogenen Beinen aufeinander hockt, auch auf der Bühne kann man sich eigentlich kaum bewegen. Während der Szene, in der die Rückkehr des Vaters zelebriert wird, fasst mir die Platzangst an mein Herz. Aber es kommt noch wesentlich schlimmer. Das Ensemble, offensichtlich die Schauspielstudenten eines Jahrgangs gemeinsam mit den bereits bekannten Darstellern des Studios, drängelt und quetscht sich in seiner Gesamtheit zwischen den Wänden, als wäre das eine überfüllte Zelle in irgendeinem Untersuchungs-Isolator nach irgendeinem schrecklichen Ereignis. Hier erübrigt es sich, über derartige Ereignisse noch irgendwelche weiteren Worte zu verlieren.

Sie sehen ziemlich cool aus, ein wenig übertrieben cool für eine Stadt wie Irkutsk. Es gab im Vorfeld einen Aufruf in den sozialen Netzwerken, Kleidung beizusteuern. Das Publikum hat offensichtlich reagiert. Somit drängelt sich eine Truppe geradezu übercooler Gestalten unter einem aufgehängten Fahrrad, flucht, raucht, hängt herum, nur die Moskauer Hektik stellt sich einfach nicht ein. Da hilft auch der Teppich aus Musikfetzen nicht weiter. An dieser Stelle hakt es, das Trägheitsmoment der Zeitreise erweist sich als unüberwindbar.

Es gibt sogar eine Handlung. Eigentlich heißt es in der Stückbeschreibung, dass die Handlung überflüssig sei, aber sie schleicht sich in Irkutsk in die Dialoge, setzt Fett an und wird unangemessen aufdringlich. Da ist eine junge Frau. Da ist der Protagonist, der hat ihr ein Kind gemacht. Da sind die hoffnungslos katastrophalen Eltern, Stiefeltern, Schwiegereltern und noch irgendwelche weiteren Gestalten, die vielleicht einfach zum Team gehören und auch dabei mitarbeiten möchten, den knappen Raum irgendwie zuzustopfen. Der Protagonist hat einen Freund, der heiratet die schwangere Frau, warum ist nicht so ganz verständlich. Die Männer haben Ziele oder gerade keine Ziele, was immerhin auch ein Zustand ist. Die Frauen sind schwanger oder auch nicht, was eigentlich egal bleibt.

Insofern entspricht die Aufführung sehr genau der inneren Haltung hier in Irkutsk. Ich bin jedoch nicht sicher, dass sie damit absichtsvoll etwas auf die Bühne gebracht haben, das ihnen ansonsten fern liegt. Es riecht ein wenig nach dem verräterischen Nebensatz, der mehr sagt, als die ganze einstudierte Rede. Man bräuchte ein paar Fotos aus meiner Universität: So, wie sie da herumlaufen, werden sie noch die kommenden dreihundert Jahre im Viktorianischen Zeitalter verharren. Wobei es damals ebenfalls aufrührerische Weltenwechsler gab, die uns bis heute in Atem halten. Und das ist dann auch die nie versiegende Quelle der Hoffnung. Im letzten Bus, der bis raus an den Stadtrand verkehrt, sitzen die echten Jäger der Nacht. Die würden auch im Dschungel der Großstadt die nahegelegene Zukunft erreichen.

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