„Suicide Sisters“ von Susanne Kennedy an der Voklsbühne
https://www.volksbuehne.berlin/de/programm/792/die-selbstmord-schwestern/3057
Für Susanne Kennedy beginnt das Problem in dem Moment, wenn eine Person die Bühne betritt und „Ich“ sagt. Hier findet sie eine Gemeinsamkeit für sich selbst und Ersan Mondtag. Beide weigern sich die Grundvoraussetzung der Verkörperung (Inkarnation) der Rolle durch den lebendigen Schauspieler/die lebendige Schauspielerin hinzunehmen. Das Theater begibt sich auf eine Zeitreise in die längst verlassene Welt der Tempel und Rituale. So etwas kann ich als Zuschauerin durchaus auch in der Umgebung einer sogenannten postdramatischen Inszenierung antreffen: In einem Restaurant werden Übergangsriten für tote Tagesküken vollzogen, Orpheus organisiert die Bewegung durch eine grenzzerstückelte Oberfläche, man erinnert sich an sich selbst, als wäre man gerade gestorben und betrachtet das eigene Ableben im Rückblick.
https://www.youtube.com/watch?v=DlwCfG4FQMg
Die postdramatische Repräsentation lebt von der Semantik der Dinge. Die Akteure weigern sich, das zu tun, was das Lehrpersonal in der Schule von Stanislawski oder Brook von einem Schauspielschüler/einer Schauspielschülerin verlangt. Entweder können sie es ganz einfach nicht, weil ihnen das entsprechende Studium fehlt oder sie verkörpern niemanden und werden in ihrer natürlichen Persönlichkeit herangezogen, vorgestellt, eingebunden, denunziert. Je nachdem, ob es um die eigene Person des jeweiligen Kollektivmitglieds geht oder um eine von außen importierte Person, empfinde ich Respekt vor der Ausstellung eines inneren Zustandes, mit dem man souverän auf der Ebene des Materials umspringt, oder winde mich in verzweifeltem Fremdschämen für einerseits schockierenden Narzismus oder andererseits enthemmte Ausnutzung einer fremden Lebenswirklichkeit für den eigenen künstlerischen Erfolg.
Weder Mondtag, noch Kennedy arbeiten mit Experten/Zeitzeugen von der Straße. Beide haben jedoch eine Gemeinsamkeit mit der performativen Szene: die unglaublich hohe Bewertung von Bühnenbild und Ausstattung. Bei Mondtag wird diese oft atemberaubende Installation im wahrsten Sinne des Wortes bespielt. Durch Masken und choreografierte Bewegungsabläufe wird jede Form von Naturalismus oder „Verkörperung“ unterdrückt, dabei jedoch keineswegs wirklich erledigt. Es bricht in den Zwischenräumen durch, dann entsteht eine (für mich) geradezu atemberaubende Spannung zwischen der Konzeption und dem physisch präsenten, menschlichen Akteur. Bei Susanne Kennedy ist der schmale Korridor dieser Konfrontation verlassen. Sie setzt auf die Verschiebung in Richtung Avatar. Gestern im Publikumsgespräch nach den „Suicide Sisters“ wurde sie nach ihrer Einstellung zur Arbeit mit Puppen gefragt. Das lehnt sie ab. Sie denkt in Richtung „Roboter“. Was hat man sich da vorzustellen? Der Unterschied liegt wohl im Grad der Formalisierung. Puppen werden bewegt oder die Installation bewegt sich um die Puppen herum. Wenn dies „Puppenspieler“ tun, ergibt sich das alte Problem der Repräsentation. Wenn es durch ein technisch vermitteltes Regelsystem geschieht, haben wir ein Programm. Dann entfällt Verkörperung als Kategorie. Der Algorithmus hat das Theater erreicht.
Das ist absolut zeitgemäß. Wenn man einen besonders böswilligen Blick auf Stanislawski wirft, entdeckt man in seinen Studienbüchern auch nichts anderes als einen Algorithmus, der lebendige Menschen in Darsteller verwandelt. Wenn ich als Zuschauerin „Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle“ gelesen habe, komme ich auch am Deutschen Theater nicht mehr auf die Idee, dass dort echte Charaktere auf der Bühne ihre Angelegenheiten austragen. Es braucht einen Schlüssel, eine Gebrauchsanweisung. Der Unterschied besteht vielleicht darin, dass ich mir zu einem naturalistisch gespielten Theaterstück irgendwie irgendeine Meinung bilden kann, immerhin habe ich in meinem Leben schon einige Seifenopern oder Tatortfolgen gesehen. Bei Ersan Mondtag bleibt mir ganz einfach die Luft weg. Bei Susanne Kennedy war ich gestern zunächst vollkommen ratlos. Die erste Stunde war wie ein Schwimmausflug über den Atlantik. Es gab die starke Motivation, den Ort zu verlassen. Ich hätte mich wesentlich wohler gefühlt, hätte ich an einem öffentlichen Ort gestanden, jederzeit frei, mich davonzumachen. Dann wäre ich vermutlich geblieben. So gab es ganz einfach keinen Ausweg. Das Haus war ausverkauft. Achthundert Personen verfolgten in absoluter Stille das farbenprächtige Treiben vorn am zeitgenössisch überladenen Medientempel. Keine Bewegung, keine Gespräche, kein Lachen. Ein heiliges Ritual mit einem nicht besonders sympathischen Avatar als Reiseleiter. Man kann das bei der Kritik nachlesen. Das kann negativ klingen.
Ich mag keine übermächtigen Bilder. Es passt mir nicht, wenn am Ende ein rotes Licht flackert, das irgendwie das Herz/die Seele/das ewige Licht symbolisieren soll. Ich mag keine Musik, die mich wie Bühnenrauch umnebelt. Ich mag keine Farbenspiele, die mir wie ein Trip vorkommen. Ich habe eine starke Abneigung gegen Totenbücher: Tibet, Isis, Mayas, egal. Ich will nicht, dass mir irgendeine verzerrte Stimme vorschreibt, was ich auf meiner letzten Reise alles zu unterlassen habe. Wer weiß, vielleicht verunglücke ich auf dem Rückweg mit dem Fahrrad, dann habe ich ein Problem. Ich mag keine Youtube Videos. Ich mag keine visuelle Reise durch den Wald, wenn der Wald die Ewigkeit ersetzen soll. Für die Ewigkeit gibt es keine Bilder. Ich habe dagesessen und nicht mitgeklatscht. Wenn es eine Installation gewesen wäre, wäre ich nach einigen Stunden zurückgekehrt. So war es erst einmal vorbei.
Dann kam das Gespräch. Vielleicht ist das für ein Theaterlaboratorium normal. Bei Boris Charmatz gab es das Gespräch vor der Vorstellung, so wusste man, warum dort das Requiem von Mozart zu hören war. Es hatte einen Sinn und ohne diesen Sinn wäre es Kitsch gewesen. Mit dem Schlüssel im Kopf war es großartig und aufregend. Die „Suicide Sisters“ liefern den Schlüssel erst im Anschluss. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass sich die menschlichen Figuren auf der Altarbühne am Ende als Männer präsentieren. Der Abspann gehörte semantisch zwingend zum Stück. Ich hatte zwar die Einführung gelesen, nicht jedoch den Roman von Eugenides. Im Gespräch stellte Johanna Höhmann als Dramaturgin den Kontext zur Verfügung. Und Susanne Kennedy erklärte ein wenig die Grundprinzipien ihrer Arbeit: Zunächst entwickelt sie eine Art Maschine, dann wird die Maschine während der Proben getestet. So macht das alles Sinn. Auch der Kitsch, den eine Maschine wahrscheinlich in der Art von Yandex oder Google genau in dieser Qualität zusammengefiltert hätte. Mit der gleichen Unausweichlichkeit, mit dem gleichen Defizit an Alternativen oder Notausgang. Gegen dieses Prinzip gab es eigentlich nur zwei Verstöße: die kotzende Figur, die dem Sterben den Glorienschein abnimmt und die zaghafte, fast ungewollte Liebkosung mit einer Bürste. Daran werde ich mich wohl auch nach einigen Jahren noch erinnern.