Farbenkitsch mit Konsequenz

Suicide Sisters“ von Susanne Kennedy an der Voklsbühne

https://www.volksbuehne.berlin/de/programm/792/die-selbstmord-schwestern/3057

Für Susanne Kennedy beginnt das Problem in dem Moment, wenn eine Person die Bühne betritt und „Ich“ sagt. Hier findet sie eine Gemeinsamkeit für sich selbst und Ersan Mondtag. Beide weigern sich die Grundvoraussetzung der Verkörperung (Inkarnation) der Rolle durch den lebendigen Schauspieler/die lebendige Schauspielerin hinzunehmen. Das Theater begibt sich auf eine Zeitreise in die längst verlassene Welt der Tempel und Rituale. So etwas kann ich als Zuschauerin durchaus auch in der Umgebung einer sogenannten postdramatischen Inszenierung antreffen: In einem Restaurant werden Übergangsriten für tote Tagesküken vollzogen, Orpheus organisiert die Bewegung durch eine grenzzerstückelte Oberfläche, man erinnert sich an sich selbst, als wäre man gerade gestorben und betrachtet das eigene Ableben im Rückblick.

https://www.youtube.com/watch?v=DlwCfG4FQMg

Die postdramatische Repräsentation lebt von der Semantik der Dinge. Die Akteure weigern sich, das zu tun, was das Lehrpersonal in der Schule von Stanislawski oder Brook von einem Schauspielschüler/einer Schauspielschülerin verlangt. Entweder können sie es ganz einfach nicht, weil ihnen das entsprechende Studium fehlt oder sie verkörpern niemanden und werden in ihrer natürlichen Persönlichkeit herangezogen, vorgestellt, eingebunden, denunziert. Je nachdem, ob es um die eigene Person des jeweiligen Kollektivmitglieds geht oder um eine von außen importierte Person, empfinde ich Respekt vor der Ausstellung eines inneren Zustandes, mit dem man souverän auf der Ebene des Materials umspringt, oder winde mich in verzweifeltem Fremdschämen für einerseits schockierenden Narzismus oder andererseits enthemmte Ausnutzung einer fremden Lebenswirklichkeit für den eigenen künstlerischen Erfolg.

Weder Mondtag, noch Kennedy arbeiten mit Experten/Zeitzeugen von der Straße. Beide haben jedoch eine Gemeinsamkeit mit der performativen Szene: die unglaublich hohe Bewertung von Bühnenbild und Ausstattung. Bei Mondtag wird diese oft atemberaubende Installation im wahrsten Sinne des Wortes bespielt. Durch Masken und choreografierte Bewegungsabläufe wird jede Form von Naturalismus oder „Verkörperung“ unterdrückt, dabei jedoch keineswegs wirklich erledigt. Es bricht in den Zwischenräumen durch, dann entsteht eine (für mich) geradezu atemberaubende Spannung zwischen der Konzeption und dem physisch präsenten, menschlichen Akteur. Bei Susanne Kennedy ist der schmale Korridor dieser Konfrontation verlassen. Sie setzt auf die Verschiebung in Richtung Avatar. Gestern im Publikumsgespräch nach den „Suicide Sisters“ wurde sie nach ihrer Einstellung zur Arbeit mit Puppen gefragt. Das lehnt sie ab. Sie denkt in Richtung „Roboter“. Was hat man sich da vorzustellen? Der Unterschied liegt wohl im Grad der Formalisierung. Puppen werden bewegt oder die Installation bewegt sich um die Puppen herum. Wenn dies „Puppenspieler“ tun, ergibt sich das alte Problem der Repräsentation. Wenn es durch ein technisch vermitteltes Regelsystem geschieht, haben wir ein Programm. Dann entfällt Verkörperung als Kategorie. Der Algorithmus hat das Theater erreicht.

Das ist absolut zeitgemäß. Wenn man einen besonders böswilligen Blick auf Stanislawski wirft, entdeckt man in seinen Studienbüchern auch nichts anderes als einen Algorithmus, der lebendige Menschen in Darsteller verwandelt. Wenn ich als Zuschauerin „Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle“ gelesen habe, komme ich auch am Deutschen Theater nicht mehr auf die Idee, dass dort echte Charaktere auf der Bühne ihre Angelegenheiten austragen. Es braucht einen Schlüssel, eine Gebrauchsanweisung. Der Unterschied besteht vielleicht darin, dass ich mir zu einem naturalistisch gespielten Theaterstück irgendwie irgendeine Meinung bilden kann, immerhin habe ich in meinem Leben schon einige Seifenopern oder Tatortfolgen gesehen. Bei Ersan Mondtag bleibt mir ganz einfach die Luft weg. Bei Susanne Kennedy war ich gestern zunächst vollkommen ratlos. Die erste Stunde war wie ein Schwimmausflug über den Atlantik. Es gab die starke Motivation, den Ort zu verlassen. Ich hätte mich wesentlich wohler gefühlt, hätte ich an einem öffentlichen Ort gestanden, jederzeit frei, mich davonzumachen. Dann wäre ich vermutlich geblieben. So gab es ganz einfach keinen Ausweg. Das Haus war ausverkauft. Achthundert Personen verfolgten in absoluter Stille das farbenprächtige Treiben vorn am zeitgenössisch überladenen Medientempel. Keine Bewegung, keine Gespräche, kein Lachen. Ein heiliges Ritual mit einem nicht besonders sympathischen Avatar als Reiseleiter. Man kann das bei der Kritik nachlesen. Das kann negativ klingen.

https://www.berliner-zeitung.de/kultur/theater/-selbstmordschwestern–das-altar-theater-der-susanne-kennedy-in-der-volksbuehne-29879128

Ich mag keine übermächtigen Bilder. Es passt mir nicht, wenn am Ende ein rotes Licht flackert, das irgendwie das Herz/die Seele/das ewige Licht symbolisieren soll. Ich mag keine Musik, die mich wie Bühnenrauch umnebelt. Ich mag keine Farbenspiele, die mir wie ein Trip vorkommen. Ich habe eine starke Abneigung gegen Totenbücher: Tibet, Isis, Mayas, egal. Ich will nicht, dass mir irgendeine verzerrte Stimme vorschreibt, was ich auf meiner letzten Reise alles zu unterlassen habe. Wer weiß, vielleicht verunglücke ich auf dem Rückweg mit dem Fahrrad, dann habe ich ein Problem. Ich mag keine Youtube Videos. Ich mag keine visuelle Reise durch den Wald, wenn der Wald die Ewigkeit ersetzen soll. Für die Ewigkeit gibt es keine Bilder. Ich habe dagesessen und nicht mitgeklatscht. Wenn es eine Installation gewesen wäre, wäre ich nach einigen Stunden zurückgekehrt. So war es erst einmal vorbei.

Dann kam das Gespräch. Vielleicht ist das für ein Theaterlaboratorium normal. Bei Boris Charmatz gab es das Gespräch vor der Vorstellung, so wusste man, warum dort das Requiem von Mozart zu hören war. Es hatte einen Sinn und ohne diesen Sinn wäre es Kitsch gewesen. Mit dem Schlüssel im Kopf war es großartig und aufregend. Die „Suicide Sisters“ liefern den Schlüssel erst im Anschluss. Ich war nicht darauf vorbereitet, dass sich die menschlichen Figuren auf der Altarbühne am Ende als Männer präsentieren. Der Abspann gehörte semantisch zwingend zum Stück. Ich hatte zwar die Einführung gelesen, nicht jedoch den Roman von Eugenides. Im Gespräch stellte Johanna Höhmann als Dramaturgin den Kontext zur Verfügung. Und Susanne Kennedy erklärte ein wenig die Grundprinzipien ihrer Arbeit: Zunächst entwickelt sie eine Art Maschine, dann wird die Maschine während der Proben getestet. So macht das alles Sinn. Auch der Kitsch, den eine Maschine wahrscheinlich in der Art von Yandex oder Google genau in dieser Qualität zusammengefiltert hätte. Mit der gleichen Unausweichlichkeit, mit dem gleichen Defizit an Alternativen oder Notausgang. Gegen dieses Prinzip gab es eigentlich nur zwei Verstöße: die kotzende Figur, die dem Sterben den Glorienschein abnimmt und die zaghafte, fast ungewollte Liebkosung mit einer Bürste. Daran werde ich mich wohl auch nach einigen Jahren noch erinnern.

Schubot/Gradinger: Yew

Beifuß rauchen – bis der Alltag mit dem Nebel fortzieht: Kritik

 

http://www.hebbel-am-ufer.de/programm/spielplan/2018-01/angela-schubot-jared-gradinger-yew/3648/

Wie wäre das, wenn wir Bäume wären und keine Menschen? Könnten wir friedlich oben über dem Rosengarten mit den Blättern rauschen, bis nach etwa 700 Jahren der Wind die Erlaubnis bekäme, uns sanft in den Schlamm zu schieben? Dann würden die Eichhörnchen ihren roten Schwanz wie einen Besen in die Höhe halten und Späne und Staub aus der Luft auf den Waldboden fegen, wo von irgendwelchen Rosenblüten schon längst jede Spur ausgewaschen und gelöscht wäre. Es bliebe die Familie der Pflanzen: Birke, Beifuß, Brennnessel, Eibe. Die Welt ohne uns, das leere Raunen des Wetters.

Vielleicht. 1967 schrieb Renate Rasp einen Roman, in dem die Eltern versuchen, den Sohn zu umzuerziehen, bis er ein Baum ist. Das war eher schrecklich. Ich habe nächtelang davon geträumt. Sie haben ihn ausgezogen und eingepflanzt, Wind und Regen sollten den Rest besorgen. Und es hat nicht einmal funktioniert: Am Ende hängt ein willenloser Fettkloß in einem Sessel, keine Natur, aber auch keine Menschlichkeit.

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46196255.html

Von Berbeli Wanning gibt es einen klugen Essay zu diesem Text:

http://www.komparatistik-online.de/index.php/komparatistik_online/article/view/162/122

Schubot/Gradinger benennen ihr Stück nach dem ältesten Nadelbaum Europas. Die Eibe, das Relikt aus der Eiszeit, steht in der Landschaft und um sie herum wächst und vergeht das verschiedenartige Grünzeug aus den unterschiedlichsten Jahrhunderten und Jahrtausenden. Ich habe das nicht gewusst. Während der Vorstellung habe ich mir einen großen, Schatten spendenden Baum gedacht, nicht dieses lebensgefährlich giftige Nadelgehölz mit seinen knallroten Beeren. Die Eibe, der Totenbaum der Kelten, symbolisiert in der Mythologie den Wahrnehmungsverlust für Grenzen und den Übergang in die Anderwelt. Das passt eher zu einem Ethnobotaniker wie Wolf Dieter Storl und weniger zum Erwartungshorizont des zeitgenössischen Theaters.

https://archive.org/stream/WolfDieterStorlPflanzenDerKeltenATVerlagDeutschDINA5/Wolf-Dieter Storl_Pflanzen der Kelten_AT-Verlag_deutsch_DIN A5_djvu.txt

Gesehen habe ich sowohl den Baum aus meiner Phantasie als auch den Giftbaum, der unsere Wahrnehmungsfähigkeit verschiebt. Elisabeth Nehring charakterisiert die Arbeiten von Schubot/Gradinger auf den Seiten des Goethe Instituts als Experimente mit der Entgrenzung des Körpers. Es geht um den Versuch des Unmöglichen, um eine Bilderreihe aus einer nahezu biologischen Entwicklungssequenz.

http://www.goethe.de/kue/tut/cho/cho/sz/gra/deindex.htm

Es war wie in einem Park, wenn man nur noch die Wolken sieht und die Zeit beginnt, sich auszudehnen. Wie sieht man in einem abgeschlossenen Theaterstudio die Bewegungsmuster des Himmels? Darin bestand die Magie des Abends. Keinerlei Dekoration, ein paar Lautsprecher. Das Publikum füllt den Raum und verteilt sich wie die Gehölze in einem Wald. Einige treffen die Entscheidung, lieber ein Tier zu sein. Die Pflanzen verzweigen sich,kriechen über den Boden, wachsen. Die Tiere lauern. Die Performer entwickeln sich in ihrer gegenseitigen Verklammerung zu einem vagabundierenden, bipolaren Gebüsch. Mal macht es halt, dann rollt es weiter. Es lehnt sich an fremde Stämme, lagert im Schatten fremder Blätter. Es erstaunt mich selbst, wie gelassen ich dieser Art von Annäherung entgegensah. Es war tatsächlich wie im Wald: ohne dramatische Spannung, aber dennoch absolut intensiv. „Sehr atmosphärisch und auch angenehm, das Alles.“ Um es mit den Worten eines anderen Bloggers (Andre Sokolowski) zusammenzufassen.

https://www.freitag.de/autoren/andre-sokolowski/yew-von-angela-schubot-jared-gradinger

Und dann war da noch der Beifuß. Das habe ich vorher nicht einmal geahnt. Dieses Straßenkraut, das auch in der Großstadt den Rinnstein bewohnt wie Tauben, Stadtratten und wir selbst, gehört zu interessantesten Pflanzen, über die unsere traditionelle Pflanzenmedizin verfügt. Man kann es in die Badewanne schütten, man kann die Linsensuppe damit würzen, man kann es rauchen. Wahrscheinlich genügt es schon, sich nach dem Regen darin zu wälzen und die unerträgliche Last der hundertfach vermittelten Existenz zwischen den Pflastersteinen zu zerreiben.

http://magischepflanzen.de/beifuss/

Und was passiert? Man entwickelt Stücke wie dieses „Yew“ (Eibe). Sehr empfehlenswert, in jeder Hinsicht.

Showcase Beat Le Mot im HAU Blasphemie in der Zeitmaschine

http://www.showcasebeatlemot.de/de/ueber-das-stueck_32.html

Wenn ich es für Geld machen würde, wäre ich verloren. Es gäbe nichts zu essen, kein Brot, kein Fleisch, keinen Wein. Es fehlt das Blut. Blut gäbe es auch nicht, höchstens Taubenblut oder Fischblut, wenn man so etwas selbst aus dem Wasser ziehen könnte. Vor vier Tagen habe ich im HAU (aus Versehen) zum zweiten Mal das Stück über die Nazi-Supermenschen von Showcase gesehen und seitdem läuft bei mir im Hintergrund ein äußerst seltsamer Film ab. Keine Ahnung, wie man dieses Netz aus Irrsinn und Spielerei zusammenfassen könnte. Zeitmaschine, Quantenschaum, Alfred Hitler, Caesar und der völkische Gruß. Naziunsinn in sauberem Latein. Und nicht zu vergessen, dass sie die Ursuppe mit Bärlauch kontaminiert haben,was mir eigentlich fast jede Scheußlichkeit erklärt, die gegenwärtig so vorfällt. Die einzige Irritation wäre die Ungereimtheit, dass dies alles in einem Paralleluniversum stattfinden soll, wo es doch so gut zu unserem eigenen Abfallhaufen passt.

Die erste Stunde der Performance verfliegt bei leichten Magenkrämpfen unter Lachanfällen. Doch dann wird es plötzlich ernst: Der Herr erscheint und trägt sein Kreuz. Das Abendmahl gibt es auch: leuchtend blaues Plastik für die Hostie und zahlreiche Flaschen Blut. In meiner näheren Umgebung beginnen einige Zuschauer damit, sich volllaufen zu lassen. Unter diesem Aspekt ist die Performance kaum mit einer anderen Gelegenheit vergleichbar: Niemand sieht dir ins Gesicht, Jesus autorisiert das Geschehen, kostenloser Rotwein. Dazu eine genial dekonstruktive Publikumsverarsche, zum Wandern in weit entfernte Welten sehr geeignet. Für meinen Geschmack eine Winzigkeit zu viel an Nebel, aber noch im Rahmen.

Sehr gelungene Visualisierungen der hundertfach gehörten, gelesenen und im Kino gesehenen Monstrositäten von gekrümmter Raumzeit, Wurmlöchern, Fehlern im Baukastensystem des Egos bei Fehllandungen im falschen Kontext. Alles zerwabert im Schaum. Die Raumanzüge sind genau so abgeranzt und zerfleddert, dass man an die ganz großen Namen des Genres denkt, ohne den üblichen Würgereiz, ganz sanft und achtsam. Die brutale Version der harten Science Fiction würde zu lange dauern: Röhrenknochen verwesen niemals, Endzeit, Moleküle vereinigen sich nach dem Zeitsprung zu sonstwas, aber niemals zum ursprünglichen,von Gott in der Prädestination gesegneten Ich.

Es ist Zeit für den Leerlauf eingeplant (siehe sich betrinken), Langeweile als mit dem Ticket gekaufter Luxus. Sehr akzeptabel, bei mir wanderten die Gedanken in das Mercien des achten Jahrhunderts. Das liegt an der BBC-Serie „The Last Kingdom“ nach Bernard Cornwell, da gibt es auch den Wechsel von Nebel, Bärlauch und Blumenwiesen. Und viele untote Königinnen, so ähnlich wie zum Beispiel Kleopatra. Das alles hat mir sehr gefallen. Ich würde ohne jede Ironie auch ein drittes Mal reingehen. Mir gefällt es, wenn die Struktur vorgeführt wird. Hier passiert es in einer intelligenten Art und Weise, bei der man auch noch vor sich hin grinst. Das fühlt sich gut an.

Was mir immer noch irgendwie Probleme macht, ist die Sache mit der Blasphemie. Und jetzt kommt das, was ich eigentlich nicht aufschreiben kann, weil ich für meine eigenen Gedanken kein Konzept habe. Ärgert es mich, wenn in einer ganz und gar akzeptablen Performance Jesus die Kreuze schleppt, weil er Probe hängen muss? (Mit Monthy Python hatte ich keine Probleme.) Was ist da in meinem Kopf los? Ich bin im harten Sinne ungläubig, ich halte die kanonischen Evangelien für das, was sie sind: eine der Macht des spätantiken Kaisertums angepasste Konstruktion. Für das, was übrig blieb, als eine vielstimmige Diskussion der Zentralmacht geopfert wurde. Oder doch nicht? Wenn die Kirche seit mindestens 1700 Jahren die Anmaßung besitzt, das Narrativ von Opfer und Verweigerung zu steuern, so gibt es doch ebenso lange – oder eigentlich sogar noch länger – das Gegennarrativ, das als ewiger Sand im Getriebe der Wahrheit knirscht. Das alles finde ich verwirrend. Es löst sich nicht, wenn ich über eine Blasphemie lachen kann. Es ist seinerseits ein wenig wie das Saufen: Es tut gut, aber später ist der Anlass immer noch der gleiche, auch wenn die Flasche inzwischen leer im Fluss schwimmt.

Volksbühne Berlin:„The show must go on“ Theaterkritik

Fotografieren während der Vorstellung nicht erlaubt

https://www.volksbuehne.berlin/de/programm/32/the-show-must-go-on

Der Start ist das Fotografierverbot. Pünktlich: in beiden Sprachen, in Deutsch und Englisch. Wie im Kino, wenn man Hollywoodfilme anschaut. Dann beginnt es zu knirschen und verweigert den Fortgang. Der große Saal der Volksbühne wird mit Popmusik geflutet (Oder war es Musical? Die Reihenfolge habe ich nicht behalten.) Es bleibt dunkel. Man ist der grässlichen Musik ausgeliefert, wie bei einer Ouvertüre von Henry Purcell, nur dass es nicht Purcell ist. Dieser Anfang sorgte bei mir für Verspannung. Gerade hatte ich das falsche Buch gelesen. Dort stirbt ein Schauspieler auf der Bühne. Es ist grandios erzählter Gesellschaftskitsch, so detailgetreu und gefühlvoll, dass es sich in die eigene Wahrnehmung einschleicht.

https://www.piper.de/buecher/das-licht-der-letzten-tage-isbn-978-3-492-06022-6

Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich habe gedacht, etwas ist nicht in Ordnung. Fast hätte ich eine Nachricht geschrieben: Seid ihr alle gesund? Ist bei euch da hinten alles gut? Doch glücklicherweise war es nur das Konzept. Das dritte Musikstück brachte schließlich die Akteure auf die Bühne.

Es gibt einen ganz speziellen Kunstschick. Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauert, bis man das wirklich kann, aber wenn man es einmal beherrscht, dann hält es vermutlich lebenslang. Jérôme Bel sagt im Interview, dass in seinem Konzept die Menschen unten die gleichen sind, wie die Akteure oben auf der Bühne. Tatsächlich hatte ich nicht den Eindruck, dass unten im Saal zahlreiche Oberärztinnen oder Krankenpfleger saßen. Oben herrschte das gleiche Bild: Jeder sah anders aus. So individuell wie sie alle waren, gab es jedoch ganz sicher keine Straßenbahnfahrer oder Mathematiklehrerinnen. (Später zeigte der Blick ins Programmheft, dass einer tatsächlich Arzt ist. Das Haus hat einen Theaterarzt. Ich finde es großartig und wusste gar nicht, dass es so etwas gibt.) Auf der Bühne spielen die Leute für ein Publikum, das ihnen sowohl ästhetisch, als auch statistisch in etwa gleicht. In Berlin ist das der gewöhnliche Zustand. Etwas anderes erlebt man vielleicht in der Deutschen Oper und ganz sicher im Friedrichstadtpalast. Aber dort gehe ich selten hin.

Das Stück versteht sich als Konzeptkunst. Es geht um das gegenseitige Sehen. Die alte Theaterdefinition von Peter Brook (Wenn einer auf dem Stuhl sitzt und ein anderer zusieht, dann ist das Theater.) wird aufgelöst, hinterfragt, umgekehrt – was auch immer. Es geht um die Abwanderung des Theaters aus den kulturellen Räumen des Rituals. Da oben agiert keine Priesterschaft, es gibt keine Einweihungszeremonie für die Akteure und keinen Schutz im Halbdunkel der Anonymität für die, die der Prozedur beiwohnen. Zitiert werden Cage und Wilson, die Revolutionäre der Vergangenheit, die heute selbst Versatzstücke für die Regale der großen Supermärkte beisteuern müssen. Kunstrevolten verlaufen in Wellen und das allerkonservativste Zeug kann eines schönen Tages plötzlich der Träger von Innovation sein.

„The Show must go on“ entstand in den Nullerjahren. Zu diesem Zeitpunkt waren die Prinzipien von Wilson bereits am Ural angekommen. Ich habe eine Adaption seiner Arbeit in Ufa gesehen. Und an dieser Stelle beginn für mich das Unbehagen: Der Abend war entspannend und unterhaltsam. Es war Silvester, gerade der richtige Spaß für den Einstieg in so eine Nacht. Früher haben sie in der Volksbühne zu Silvester die Abläufe etwas durcheinander gebracht, auf der Bühne (und vermutlich auch hinter der Bühne) getrunken, das Theater als das gezeigt, was es auch ist: ein Job für hochqualifizierte Leute, die an besonderen Tagen nicht ganz so genau wie eine Marspilotin funktionieren müssen, das Schiff aber ohne Zweifel auffangen können, wenn es zeitweise auf Abwegen unterwegs ist. Da ich anfangs dachte, ich sei in einem improvisationsgestützten Stück, hat mich die Starrheit der unspezifischen Abläufe etwas erstaunt. Aber dennoch: Es gab Spaß. Es gab Gelächter. Manchmal war es schräg und überschritt die Grenze der Denunziation, was für Profis in Ordnung ist, bei Laien empfinde ich so etwas als Übergriff durch die Regie. Aber im Widerspruch zu der vorgeschalteten Information im Fernsehen standen ziemlich viele Profis auf der Bühne.

Mein Unbehagen begann bei der anschließenden Recherche. Ich wusste nicht, dass es sich um eine Franchise-Produktion handelt, mit einer gewissen Parallele zu Riverdance oder „König der Löwen“. Nun ist das der Performanceszene nicht grundsätzlich fremd, Rimini Protokoll lassen ihre Ideen ebenfalls in nahezu endlosen Wiederholungsschleifen laufen. Und manche wirklich großartigen Formate wie „X-Wohnen“ leben geradezu von dem Spiel zwischen Vorgabe und individueller, abweichender Verwirklichung. Wenn man sich die Videos zu Jérôme Bel im Netz anschaut, dann mangelt es gerade hier: Wie reizvoll wäre es doch, die Unterschiede zwischen Wien, Warschau, Madrid zu erleben. Dazu lässt die Produktion zu wenig Raum. Die offensichtlich als „Flagschiff“ intendierte Sequenz, bei der die Akteure (ihre individuell gewählte?) Musik, die ihnen über Kopfhörer eingespielt wird, durch eigenen Gesang unterbrechen, gleicht sich in der Aufstellung und in den Abfolgen unabhängig davon, wo das Ganze produziert ist.

Bel sagt nicht ohne Zufriedenheit, dass er das Stück allein schrieb und die Musik von ihm gewählt ist. Die Wiederaufführung ist dann eher trivial. Es handelt sich nicht um ein Reenactment mit einer forschenden Dimension. Wie bei den großen kommerziellen Wanderproduktionen kann ein Stab von Assistenten hier neue Darsteller rekrutieren und sie in ihre Aufgaben einweisen. Ich möchte da ehrlich gesagt niemals dabei sein. Aber es war doch ein wenig schmerzvoll, so etwas gerade im Haus der Volksbühne zu erleben. Hier hat sich der Geschmack oft gesträubt, das Geschehen oben auf der Bühne zu akzeptieren. Ob das nun in der grauen Vorzeit Karge war, der als Hamlet auf der Degenspitze herumlungerte und einfach nicht zum Schluss kam, oder Castorf mit seiner genialen Publikumsquälerei, es hatte etwas, und wenn man durchhielt, hatte man hinterher irgendwie mitgearbeitet und war auf dem nächtlichen Weg nach Hause sogar stolz.

Davon ist überhaupt gar nichts geblieben. Ich habe mir die ganze Zeit gesagt, dass die Dinge im Fluss bleiben müssen und dass es normal ist, wenn ein Haus sein Gesicht verändert. Niemand lebt Jahrzehnte lang in derselben Stadt. Niemand geht Jahrzehnte lang in dasselbe Theater. Man braucht Neugier, sonst stagniert es. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Meiner Neugier wurde an diesem Abend nichts geboten und selbst das, was vielleicht ganz nett war, erwies sich im Nachhinein als Nummer in einer Serie, in der ich mich nun auch selbst als Zuschauerin wiederfinde.

Proton Theater: Winterreise (Kritik)

Kein Eingang: Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten

Hebbel am Ufer Dezember 2017

https://protontheatre.hu/performance/winterreise

http://www.hebbel-am-ufer.de/programm/spielplan/kornel-mundruczo-winterreise/

Irgendwo dort in Ungarn steht ein abgeschabtes Haus in der Nähe der Autobahn. Vor einigen Monaten oder inzwischen vielleicht sogar Jahren schliefen da junge und alte Männer auf durchgelegenen Matratzen unter einem niedrigen, nahezu erdrückenden Dach. Zwischen ihnen lebte eine alte Frau. Sie war die einzige Frau, deren Bild im Kunstprojekt auftaucht. Wir sehen, wie sie unendlich müde, und doch ebenso unendlich weit von jeder erlösenden Entspannung entfernt auf einem Kopfkissen liegt. Sie trägt ihr Kopftuch wie einen Schal, der sie wenigstens etwas schützen könnte. Wenn es denn noch Schutz gibt auf diesem letzten Wegstück, das ihr bevorsteht.

http://www.mousonturm.de/web/de/veranstaltung/die-andere-winterreise

So gern wüsste ich mehr über diese Frau. Das ist das Manko an dieser sonst sehr starken Performace – oder vielleicht besser Aufführung, denn es ist mehr als ein weiterer Mosaikstein im Gesamtkunstwerk des nichttheatralischen Theaters – diejenigen, um die es geht, bleiben in der Namenlosigkeit verloren. Wir sehen ihre Körper, wir sehen Ausschnitte ihres Lebens unter dem hyperrealistischen Brennglas der wirklich ausgezeichneten Videosequenzen, doch es fehlt die Zuordnung zu ihrer individuellen Persönlichkeit. Es gibt keinen Rollenzettel und keinen Abspann, der sie als Unterstützer festhält. Es leuchtet mir ein, wenn ich es als Element des Gesamtkonzeptes begreife. Aber es zerstört die Balance. Gesang, Regie und Musiker haben einen Namen. Die, um die es geht, verschwimmen zu den anonymen Trägern eines erst durch die Kunst in die Sichtbarkeit gebrachten Materials.

Wenn ich damit beginne, dann liegt es an meinem Wunsch nach der Teilhabe an dem perfekten Kunstwerk. Das, was ich gestern gesehen habe, kommt einem solchen Ereignis in meiner Wahrnehmung sehr, sehr nahe. Eigentlich würde es mir niemals einfallen, mich in einen Konzertsaal zu setzen und dort die „Winterreise“ von Schubert anzuhören. In der Produktion des Proton Theaters hat sich jedoch diese Musik (1827) und mit ihr der Text von Müller (1826) auf ganz unerwartete Art erschlossen. Tatsächlich gibt es im Werk von Schubert immer wieder einen Bezug zu Ungarn. Somit ist es folgerichtig, den Durchzug der von der Flucht in die Heimatlosigkeit getriebenen „Reisenden“ an der „Winterreise“ zu spiegeln und künstlerisch zu verdichten. Es entsteht ein Energietransfer, ein geradezu unglaublicher Lichtbogen der Bedeutung. Die ohnehin schwer zu ertragenden Bilder der Wanderungsströme fallen in Müllers Texten einer Vereinfachung anheim, die sie letztlich verständlicher macht, als jede analytische Erklärung.

http://www.gopera.com/winterreise/songs/cycle.mv

Die Musik von Schubert unterwandert die konstruierte Sinnumgebung der einfachen Bilder, eine Nervosität breitet sich aus, die jenseits des rationalen Zugangs auch am nächsten Tag und wahrscheinlich auch noch in der nächsten Woche weiterbesteht und die Anmaßung besitzt, von der Alltagsroutine Besitz zu ergreifen: Weihnachtsirrsinn, Straßenbahnen, Krähenschwärme, der eigene Kühlschrank. Was, wenn es uns allen über Nacht genommen wäre? Was, wenn wir irgendwo auf der Autobahn im ungarischen Niemandsland unsere Kinder an den Kilometerzählern vorüber schleppen müssten? Das fremde Dorf in der Nacht zu durchqueren ist gefährlich („Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten“), schlimmer ist jedoch, welchen Schmerz es hervorbringt: Nicht dazuzugehören, niemals einzukehren, zu wissen, dass es weder Rückkehr, noch Ankunft geben kann. Und bei aller Bitterkeit und Wut über die Anordnung der Wirklichkeit, die hinter einem solchen Absturz in die Katastrophe steht, bildet sich ein hauchdünner, farbenfroher Film von Ironie. Die Verfremdung durch den Bruch an der frühromantischen Musik wirkt wie die schwache Polarisierung, mit der eine Käferpopulation einen Leuchtstrom hervorbringt: sichtbar in der Finsternis, nicht nur für das eigene Auge oder für die Augen der mitgewanderten Verwandten.

So großartig das Konzept ist, war es doch vor allem ein Abend der Akteure. János Szemenyei agiert vor der durchgesessenen, abgehäuteten Leiche eines Kunsledersofas in einem persönlichen Reenactment die Stationen durch, an denen das Ich des Wanderers jeweils eine weitere Schicht der Schutzhülle der eigenen Identität verliert. Es wird alles abgenommen und ausgemessen. Es gibt einen einzigen Moment, da eine zweite Person auf der Bühne steht: Der Polizist, dem der Wanderer während der erkennungsdienstlichen Erfassung ausgeliefert ist. Wenn Szemenyei dennoch nie allein bleibt – auch das ist Realität der Flucht – dann liegt das am Fluss der Bilder im Hintergrund. Das namenlose Ensemble der Bewohner des Flüchtlingslagers agiert minutiös die Einzelsequenzen der täglichen Existenz aus: Fitness, Essen, Sprachunterricht (als tödliches Spiel der Galgenmännchen), Verzweiflung, Kraftlosigkeit, Schlafen. Die Videosequenzen sind genial. Die Spannung zwischen der nicht gewährten Ankunft und der besinnungslosen Routine der Eingesessenen, die sich ihrerseits bei jeder Annäherung verflüchtigen und den Kontakt verweigern, findet ein lächerliches, in der Trivialität erschütterndes Bild im Verhalten der schwarzen Katzen. Die Katzen leben in diesem Lager. Wenn die Lagerkinder den Versuch unternehmen, mit ihnen zu spielen, verschwinden sie im Dschungel des Mülls. Nur mit großer Mühe kann man sie einkreisen und unter einer verrosteten Badewanne in Augenschein nehmen. Die Kinder starren sie an. Auf der Bühne ersäuft der Sänger einen Plastikkater im Klo. Das erscheint als akzeptable Konsequenz.

Selten habe ich das Gefühl, dass das, was ich hier aufschreibe, so ganz und gar unangemessen bleibt, denn es ist hoffnungslos flach. Ich meine das als uneingeschränktes Kompliment. Es gab einen Moment, den konnte ich kaum ertragen: Aus der Verzweiflung heraus die Geste des Fingers an der eigenen Schläfe, der Finger ein Pistolenlauf, die Faust der Abzug. Das auf der Videowand von allen mitagierenden Männern nachgestellt: Jedes einzelne Gesicht, jede einzelne Art, die Fassung zu verlieren oder eben doch bis zum letzten Moment zu halten. Und sich damit einem unbekannten Publikum zu stellen, zu dem es im Moment dieser Offenbarung nicht den geringsten Kontakt gibt.

Marta Górnicka: Hymne an die Liebe – Kritik

Chor der Inklusion Zusammenstehen gegen unsichtbare Gegner

Warum sprechen Menschen im Chor? Meine Verunsicherung ist maßlos.Warum sprechen viele Menschen die gleichen Worte in der gleichen Situation? Gibt es überhaupt eine gleiche Situation für mehrere Personen, die gleichzeitig anwesend sind und äußerlich das Gleiche tun? Ist der elfjährige Junge tatsächlich durch den Chor mit der Frau verbunden, die seine Großmutter sein könnte oder möglicherweise sogar ist?

Ich denke an die Kirche. Jeder betet für sich, aber alle gemeinsam. Ich denke an die Aufmärsche meiner Kindheit. Aber das war kein Sprechen, das war Geschrei. Ich erinnere mich an das Gefühl: Ich schreie mit aller Kraft, aber niemand hört mich. Meine Stimme ist irgendwo in der Tiefe des allgemeinen Brummens und schon damals suchte mich die fatale Idee heim, dass ein Massenaufmarsch mit Geschrei Einfluss auf das Wetter haben könnte und den Insekten das Fliegen schwer macht. Immerhin geht es um Wellen und Interferenz.

Marta Górnicka versammelt in ihren Projekten sehr unterschiedliche Menschen und inszeniert mit diesen von Diversität geprägten Gruppen ein Format, das vielleicht mit Sprechkonzert am besten beschrieben ist. Handlung fehlt, es gibt jedoch zunehmende und abflachende Kurven im Energiefluss der Performance und hin und wieder einen Moment der Individualität, der Augenblick der Abweichung, an den man sich später erinnert. Marta Górnicka arbeitet mit den Elementen von Rhythmus und Musik. Sie verfügt über eine exzellente Ausbildung, weiß sicher sehr genau, was sie tut. In ihrer künstlerischen Biografie ist Robert Wilson erwähnt, das macht manches besser verständlich. Es gibt so etwas wie eine Choreografie, aber das ist eher rudimentär, man könnte es auch als Hin- und Herschieben von Geräuscherzeugern bezeichnen.

http://www.gorki.de/de/ensemble/marta-gornicka

http://www.martagornicka.com/Gornicka/HOME.html

Wenn man liest, was sie macht, ist das Konzept von beeindruckender Klarheit. Sie inszeniert den Chor der Frauen. Sie inszeniert mit Frauen aus Israel und aus Palästina. Sie versammelt Bürger ihres Landes, unabhängig von deren gesellschaftlichem Hintergrund. Professionelle Darsteller arbeiten mit Laien auf Augenhöhe. Gelebte Inklusion: Behinderung hindert nicht mehr an der gleichberechtigten Präsenz auf der Bühne. Das Material entstammt dem Alltag der Akteure und spiegelt ihre jeweilige Verortung in dieser Welt, in der wir wohnen.

http://www.kulturtransfer.eu/index.php?option=com_content&view=article&id=143:marta-gornicka-ein-gespraech&catid=3:theater&Itemid=4

Ich bin ausschließlich auf positive Reaktionen gestoßen, auf überschwängliches Lob. Überall: von der Kulturseite des polnischen Außenministeriums (unter dem Motto „Faithful the Republic of Poland“) bis hin zu Theaterkritik und linker Presse.

http://www.msz.gov.pl/en/foreign_policy/public_diplomacy/news_hpage/the_year_of_the_polish_theatre_launches_in_israel?channel=www

http://www.theaterderzeit.de/2017/03/34822/

https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=11544:m-other-courage&catid=228:staatstheater-braunschweig

Und doch fühle ich mich selbst wie die Tapete in diesem Saal: Alle sprechen, aber ich kann nicht und will nicht, weil es nicht meine Natur ist. Ich empfinde das Sprechen im Chor als gewalttätige Aktion. Als Auslöschung von Differenz, als Verdichtung von Zigarettenkippen und Gebüsch zu einer festen grauen Masse, gut geeignet, um Schienen darauf festzuschrauben. Wenn das auf der Straße passieren würde, während die Leute vorübergehen oder vielleicht auf einem Bahnhof, hätte es für mich möglicherweise noch einen nachvollziehbaren Sinn. Es wäre dann der Schutz der Masse, der Mut gibt. Und dieser Mut wäre nötig, denn die Welt draußen vor der Tür enthält tatsächlich Fanatiker, Nazis, stille Nazis, besorgte Wahrer der Tradition und was weiß ich noch alles an monströser Realität. Aber so? In einem gut geheizten Theatersaal vor gut sortiertem Publikum? Das brav auf der Treppe steht, bis es endlich zum Zuhören eingelassen wird und dann ohne zu murren zuhört?

Oder habe ich es vielleicht überhaupt nicht verstanden? Waren die Leute dort vorne auf der Bühne vielleicht wirklich gemischt und zum Teil vielleicht gar nicht besonders reserviert gegenüber dem ganzen Glaubens- und Nationalmüll, den sie von sich gaben? Haben sie das vielleicht ernst gemeint mit der Rückgewinnung des Landes und dem Wunsch, den Flüchtlingen den Weg zu weisen – egal wohin, Hauptsache raus? Dann hätte ich aufstehen und meinerseits herumschreien müssen und auf der Bühne vorne für Chaos sorgen. Aber das war das Gorki. Niemand kam auf so eine abwegige Idee. Fünfzig Minuten sitzen, hören, sich der Vergewisserung vergewissern, dass die anderen einen schrecklichen Dachschaden haben und demnächst den neuen Weltenbrand anzünden werden. Und vor allem, dass sie nicht dabei sind. Sprechen im Chor über das, was nicht da ist. Was draußen herumschleicht und nicht einmal weiß, dass es mit den eigenen Worten vorgeführt wird. Mich macht das unendlich müde. Nichts bewegt sich. Es ist laut, aber es könnte auch völlig stumm sein. Ein Unterschied existiert nicht. Es ist ein wenig wie auf einer Party: Alle hören die gleiche Musik. Aber es macht nicht lustig und man wird im allerbesten Fall betrunken. Bei „Fear“ von Falk Richter war das anders. Draußen im Bundesland ist es ebenfalls anders.

http://www.schaubuehne.de/de/produktionen/fear.html

http://www.textblog.berlin/

Mon Chi Chi im Weltall: Ersan Mondtag in Hamburg

Weltall – Da ist alles schwarz und rundherum leuchten die Sterne.

Zum letzten Mal: Schere, Faust, Papier in Hamburg

https://www.thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/schere-faust-papier/

Oder haben geleuchtet oder haben als Supernova gestrahlt oder sind bereits zusammengefallen. Außerdem gibt es schwarze Löcher, aus denen nichts herauskommt, vor allem keine Information. Wie es sich so im Allgemeinen mit der Zeit verhält, ist nicht recht verständlich. Jedenfalls geht es nicht sauber linear zu. Man kann sich also vorstellen, „Wolfenstein“ zu spielen, mit Nazis (Version 1) oder ohne Nazis (Version 2). Oder „Schere, Faust, Papier“. Mit Nuklearbomben oder ohne.

http://www.deutschlandfunkkultur.de/aus-den-feuilletons-anti-nazi-ballerspiel-ohne-shoa.1059.de.html?dram:article_id=400578

http://www.taz.de/!5453466/

Auf die Zeit bezogen schreibe ich rückwärts linear. Wie man es sonst für Premieren tut, bin ich für eine letzte Vorstellung aus Berlin nach Hamburg gefahren. „Schere, Faust, Papier“ von Michel Decar hatte vor etwa einem Jahr in der Inszenierung von Ersan Mondtag Premiere und verschwindet nun zumindest vorerst vom Spielplan. Mich hat es damals nicht besonders interessiert, weil ich damit beschäftigt war, möglichst viele Performancekünstler anzusehen, bis es mir letztlich aus den Ohren herauskam. Die Hamburger müssen nicht wirklich weinen, gerade hatte eine weitere Regiearbeit von Ersan Mondtag Premiere und sorgt jetzt für kontroverse Kritik und laute Diskussionen unter Theaterbesuchern, auch wenn sie ihre Zeit eigentlich in einem anderen Stück verbringen (Jelinek oder Ersan Mondtag: Man muss mindestens eins von beiden furchtbar finden, sonst ist man schizophren). Zumindest das ist etwas, was ich schon sehr lange nicht erlebt habe.

https://www.thalia-theater.de/de/spielplan/repertoire/die-orestie/

https://www.abendblatt.de/kultur-live/article212282559/Ich-kann-mit-Freizeit-nicht-umgehen.html

Auch damals waren die Urteile sehr unterschiedlich. Es geht um so etwas wie eine Beta Version der Weltgeschichte: nicht ganz der volle Funktionsumfang, abgespecktes Handlungsspektrum, eingeschränkte Tiefe der Simulation. Darum ging es dann auch in der Kritik. Ob so eine Suppe aus Höhlengleichnis, Steinzeit und Atomschlag ein nichtssagender Mist ist oder eine begnadete Kompilation. Und was die Nazis in dieser Suppe machen, denn die schwimmen auch mit zwischen den anderen Nudeln und Karotten. Und warum das alles im Trichter spielt. Aus dem es physikalisch gesehen bekanntlich über den Abfluss direkt weitergeht in die Kanalisation.

http://www.deutschlandfunkkultur.de/schere-faust-papier-in-hamburg-mit-den-pantoffeltierchen-in.1013.de.html?dram:article_id=374302

https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=13436:schere-stein-papier-ersan-mondtags-urauffuehrung-des-stuecks-von-michel-decar-am-thalia-theater-hamburg&catid=38:die-nachtkritik-k&Itemid=40

https://www.freitag.de/autoren/stefan-bock/schere-faust-papier

Mir war das eigentlich komplett egal. Es gab einen Text, ja, und der wurde zum Teil meisterhaft vorgetragen. Das ist nun einmal der Unterschied zwischen einer Performance und professionellem Theater. Manchmal kam es mir so vor, als ob da blaue Flauschfiguren die Diktion von Corneille und Racine entfalten. Das war uneingeschränkt genial, unabhängig vom Inhalt. Den Inhalt habe ich mehr oder weniger vergessen. Es gab da ein paar Anker, die der Erinnerung wert sind. Dass sich die Mon Chi Chis ihrer Sorglosigkeit vergewissern, wenn es wieder einmal von außen „kratzt“, was wohl bedeutet, dass irgendein ungenannter Gegner Atombomben wirft. „Sollen sie ruhig schmeißen“, das war wie im Film oder wie im Spiel. Und das Geschnatter zum Menschenopfer, das hat mir gefallen. Und eigentlich hat mir auch gefallen, dass es alles in Unsinn mündet, zum Beispiel in einen grotesken Umzug, wenn es Zeit für ein neues Reset ist oder ein spaßiges übereinander Stapeln und Sex Imitieren oder einfach nur das viele, pausenlos Herumhüpfen. Dazu gehört dann auch, dass ein Mitarbeiter das leuchtende Ausgangsschild für den Fluchtweg mit dem Besen zuhält, wenn sich die Bühne verdunkelt. Besen und Handarbeit zur Vervollkommnung der Apokalypse.

Es gibt ein paar Übergänge in das Reich der ernsthaften Dystrophie. Margaret Atwood hat für ihren Alptraum „MaddAddam“ so etwas ähnliches wie Mondtags Bühnenwesen erfunden, nur wesentlich schräger und verrückter und vor allem konsequenter. Da steckt eine abgrundtiefe Nachdenklichkeit über die Natur von Intelligenz und biologischer Trägersubstanz dahinter, wer sich darauf einlässt, bekommt schlaflose, schlimme Nächte. Oder der „Zeitnager“ (und andere Arbeiten) des Videokünstlers und Spieledesigners Ondrej Svadlena. Hier trägt das Mischwesen aus Biologie und Programmcode eine altmodische Schultasche durch die Abgründe der Zeit, genial gemacht, ernsthafter, gar nicht lustiger Horror über das, was ist und das, was sein wird.

http://cinema.arte.tv/de/artikel/der-zeitnager-von-ondrej-svadlena

https://vimeo.com/80706397

Damit kann man eigentlich kaum konkurrieren, man kann auch nicht darüber lachen. Aber wenn man es mit einer Schicht von reinem, klassischen Theater überzieht, dann entsteht eine sehenswerte, ungewöhnliche Kreation.

Auferstanden aus der Familiengruft der Macht

 

Ödipus und Antigone am Gorki

Das Problem der Gespenster ist ihre Unsterblichkeit. Unser Problem besteht darin, dass wir sie normalerweise nicht erkennen. Auch wenn sie uns überall finden. Ersan Mondtag hat sie auf uns losgelassen. Nicht ganz so fürchterlich,wie es Vegard Vinge veranstaltet hätte, aber es hat gereicht.

http://gorki.de/de/ensemble/ersan-mondtag

Klar hätte ich Lust, ebenfalls zu beschreiben, was es da zu sehen gab. Obwohl ich ganz hinten sitzen musste, denn es war hoffnungslos ausverkauft. Neben mir hockte ein grauhaariger Freund der klassischen Antike und stöhnte vor sich hin. Meiner Freundin ging es nicht besonders gut. Vor uns verabschiedeten sich zwei Frauen und widmeten sich für den Rest des Abends ihrem Facebook. Und es gab auch die, die rausgerannt sind und sich wahrscheinlich erst später beim Bier wieder irgendwie erholten. Natürlich war es eine Zumutung. Aber als Zumutung war es ziemlich genial. Normalerweise überfällt mich während des Theaterabends ungefähr in der Mitte der zwanghafte Wunsch, irgendetwas auszurechnen: den Tagesetat, das Monatseinkommen, die nächste Steuer. Gerne auch mit dem Handy. Diesmal blieb ich diszipliniert. Ich hatte keine Zeit zum Rechnen. Das übliche Loch der Langeweile blieb aus.

Dann habe ich gelesen, was die anderen so gesehen hatten. So in etwa fast das gleiche wie ich:

http://www.tagesspiegel.de/kultur/oedipus-und-antigone-am-maxim-gorki-theater-slapstick-der-antike/19410622.html

http://www.berliner-zeitung.de/kultur/theater/theaterkritik–oedipus-und-antigone—-ein-familiaeres-greisenkabinett-25765630

https://www.freitag.de/autoren/kulturblog/oedipus-und-antigone-am-gorki-theater

Ersan Mondtag veranstaltet eine Totenbeschwörung. Rosarote Zombiegeister stolpern (wahrscheinlich nicht zum ersten Mal) durch den stark verwehten Text von Sophokles. Es gibt ein weißes Bretterhaus (irgendwie zwischen amerikanisch und unserer Gartenlaube in Berlin-Buchholz), es gibt Fenster zum Rein- und Rausglotzen, es gibt eine Rampe, es gibt den Soundeffekt. Der Soundeffekt hat mich gepackt. Der Hall des Mörderspiels durch die endlosen Wüsten der Zeit. Zweieinhalb Jahrtausende Totschlag und immer noch hört man das Jaulen dieses einen Desasters. Warum? Warum hat Sophokles sein Genie benutzt, um gerade dieser Clique aus Theben ein ewiges Denkmal zu errichten?

Die haben zwar noch mitgemacht, als es gegen Troja ging, aber etwas näher an der Gegenwart von Sophokles wird es verworren: Während die guten Griechen an den Thermopylen ihr Leben für die Freiheit ließen, paktierte Theben mit den Persern. Unser wichtigster Wert (doppelt freier Lohnarbeiter, freie Mitarbeiterin, Meinungsfreiheit, Freihandelsabkommen) war der Clique aus Theben egal. Im griechischen Kulturkreis gab es dafür die Auslöschung der Erinnerung. Archäologen und Althistoriker zerbrechen sich deshalb den Kopf. Sophokles macht aus den Thebanern Monster. Ganz im Sinne von Aristoteles: Jammer, Furcht und Schrecken. Mondtag macht aus den Monstern Zombies. Das kann mein zeitgenössisches Herz sehr gut verstehen. Den ganzen Staub mit Schuld, Katharsis und Reinigung durch gegenseitiges Abschlachten kann man löschen. Es gibt kein Ritual. Es gibt keinen Ziegenbock, den man solange auspeitscht, bis er in die Wüste davonrennt. Es gibt kein stellvertretendendes Menschenopfer. Es gibt den realen Krieg. Er tobt vor unserer Tür und frisst, was ihm vor das Maul kommt: Frauen, Kinder, Männer, Hunde. Geschichte und Palmyra. Die phönizische Kultur. Das in den Kreuzzügen belagerte Aleppo. Und wir leben in einem Land, das die hierfür benötigten Waffen bereitstellt.

In den Kommentaren bekennt sich Ersan Mondtag zu einer politischen Intention. Das ist fast selbstverständlich. Sophokles ist politisch. Das rituelle Theater in der griechischen Polis war politisch. Das reale Theben liegt sehr nah am realen Krieg.

http://www.deutschlandradiokultur.de/antigone-und-oedipus-auflehnung-gegen-das-herrschende-un.1008.de.html?dram:article_id=374964

http://www.renk-magazin.de/ersan-mondtag-meine-arbeit-ist-politisch-weil-ich-selbst-politisch-bin/

Zwei Tage nach dem Besuch der Vorstellung zieht mir neben meinen von der Geschichte infizierten Gedanken noch immer der zerfetzte Text durch mein Gedächtnis. Ich denke, dass es richtig war, ihn zu so zu behandeln. Aber das, was übrig geblieben ist, überfällt die Zuschauenden immer noch mit der Gewalt einer beserkerhaften Ästhetik: lächerlich gemacht, vorgeführt, durchleuchtet und trotzdem noch immer unantastbar schön. Wie der Alkohol, von dem man weiß, dass er einen Kater erzeugt. Sophokles macht selbst in Bruchstücken noch gefährlich besoffen.

Showcace Beat Le Mot: Gefühle. Kritik.

Es heißt „Gefühle“. Gesehen habe ich die Schöpfung und ihr Ende und eine Art Eiskrem aus Kitsch, aber salzig. Es hängt immer noch in der Luft.

Sogar nach zwei Tagen hält sich ein Hauch der seltsamen Melancholie, die wie ein feiner Sprühregen Dächer, Blätterhaufen, Fahrzeuge und Touristen zum Glänzen brachte, als ich in der aufgeregten, weihnachtsbescheuerten Stadt in das Verdauungssystem der BVG abtauchte und mich in das Material verwandelte, das ein Verkehrssystem im Untergrund hin und herschiebt.

http://www.hebbel-am-ufer.de/programm/spielplan/showcase-gefuehle-grosser-saal/2962/

http://www.showcasebeatlemot.de/

Mehr als jedem Begleittext habe ich den eignen Augen getraut. Zunächst wie immer ein wenig verärgert, wenn Mitmachtheater über mich hereinbricht, dann aber immer mehr davon fasziniert, wie der Fluss der Bewegung der hin und her schwimmenden Zuschauergruppen eine Collage aus Dingen, Darstellern, irrsinnigen Kostümen und exzentrischer Mode im Publikum heraufbeschwört wie ein eigenwilliger Akt der Schöpfung, der sich kaputtlacht, während er schon die Nachfolgestufe unserer Evolution ins Auge fasst. Es war tatsächlich gleichzeitig langweilig, kitschig, subversiv und so noch nie gesehen. Und auf eine träge und doch keineswegs unbeteiligte Weise hat es Spaß gemacht: Früchte sehen, Früchte stehlen, Früchte essen. Früchte verdauen und Gedankenblasen oder Gaswölkchen in den Teppich der etwas grausamen, gnadenlos unerfreulichen Musik hineinmischen, wie in einen Soundtrack, der erst in einer stockenden Wiedergabe interessant wird.

Wenn man das, was passiert, zusammenfasst, ist man nach wenigen Sätzen fertig. Es gibt ein Video von der Schöpfung. Die Schöpfung erfolgt an der Orgel: mehr oder weniger selbstherrlich drängeln sich über und untereinander herumkriechende Demiurgen an der Tastatur des Inputs, heraus kommt elektronischer Orgeltonbrei und der Übergang zur Phase zwei: Aneignung durch Zubereitung, Fressen und Verdauung. Es gibt einen langen, prächtig hergerichteten Tisch voller Alkohol und Früchte: griechisches Symposium, niederländisches Stilleben mit eigenwilliger Fixierung auf Verwesung und Verfall, Game of Thrones: das Festmahl vor dem Schlachten. Die Performer betätigen sich als alchimistische Arrangeure. Sekt sprudelt in einem riesigen Kolben, Mischkrater von Substanzen und Gefühlen, Suppe, die Äpfel, Birnen Trauben in schwimmenden Molekülsalat verwandelt. Es war lustig zu registrieren, dass jeder der Glücklichen, die einen Plastikbecher der Schöpfungsbrühe in die Hand bekamen, zunächst die Nase hineinhielt und es möglichst auch noch von Freunden beschnüffeln ließ, ehe man den ersten Schluck nahm.

Dann krochen sie in den Darm. Der Darm war wie jeder Darm zu eng, es buckelte und blähte. Es gab einige Kinder im Saal, die wären gern mitgekrochen, so drückten sie von oben dagegen, die kleinen Helfer der Verdauung. Für die Kinder war es ein toller Abend. Dafür liebt man Showcase, für den Respekt für den Spaß der Kinder. Dann weiß ich es gar nicht mehr so genau. Mein Zwang zu verstehen und zu registrieren hatte sich verabschiedet. Ich ließ mich treiben. Dinge fanden ihre Form. Kleine Blitze führten ein Ballett auf. Ein Haufen Dinosaurieknochen entfaltete sich zu einer fliegenden Giraffe. Es war schön.

Schließlich gab es auch noch einen Abschluss. Der Abschluss erklärte, dass unser Leben keineswegs schön ist, sondern graubraun und starr (the Turd after the Show of beautiful Fruits). Das kennt man von Brecht und Wilson: Genuss im Theater ist ein Symptom für abgestorbene Kunst, intellektuelle Bewertung ist das Leben. Das hätte ich eigentlich nicht gebraucht. Eingetütete Tänzer rutschen über eine starre Matrix, bitte erkennen Sie die Bedeutung: Das Ende ist braun, auch wenn der Apfel am Morgen rotgolden strahlt. Harte Konzeptkunst tickt so. Aber man konnte es ignorieren. Die eigenen Gedanken überschwemmten die Didaktik. Und tatsächlich auch: Gefühle.

Der Selbstmord der Nation in Belgrad

Die mit dem Balken auf der Brust sind die Frauen, die sich exzessiv der Abtreibung hingeben.

Erst geht es gar nicht los, sie stehen herum, als ob sie warten. Machen sich irgendwie Mut. Dann steigen sie aufs Kreuz. Wenn man sich kreuzigen lässt, erhält man mit genügend Glück einen Lichtkreis um den hin und her geworfenen Schädel. Die auseinander gezerrten Arme hängen an der Wand. Die Musik jault grässlich. Dann kriecht sie wie eine Schnecke in eine lächerliche Choralimitation zurück, bis sie im allgemeinen Lärm erstickt. Im Bitef-Theater in Belgrad geht es um Gewalt. Gewalt gegen Frauen, Gewalt gegen Kinder, Gewalt gegen alle, Gewalt als rituelles Spiel. Die gekreuzigten Figuren an der Wand sind der gewalttätige Jedermann, der mordend durch die Trümmer robbt und sich dabei selbst als Opfer der Zivilisation beweint. Er hasst, was er für zeitgemäß und modern hält: Hedonismus, Egoismus, individuelle Abweichung, kurz das übliche Inventar, das den Hassgestalten in der aufgerüttelten Gegenwart als so grenzenlos (im wahrsten Sinne des Worte) hassenswert erscheint.

http://teatar.bitef.rs/2015/05/26/18-19-i-20-april-crvena-sex-i-posledice-premijera/

http://festival.bitef.rs/2015/09/03/bitef-zone/

Das eigentliche Thema ist der Abort. Der Abort als unsichtbare, täglich ausgeübte Gewalt, sich selbst angetane Gewalt, auf andere übertragene Gewalt, als Organisationsprinzip einer auf Gewalttätigkeit beruhenden Gesellschaft. In einem ausschließlich von Männern gespielten Stück sträubt sich das Empfinden, überhaupt darauf einzusteigen. Der Saal in der ehemaligen Kirche in Belgrad ist ausverkauft, obwohl die Produktion bereits ein Jahr lang läuft. (Damals habe ich einen Sturm aus Wut und Begeisterung erlebt.) Ich sehe eine überwältigende Mehrheit von Frauen. Anders als bei vielen Berliner Produktionen fehlt es hier in Belgrad an einem bequemen Gerüst von Deutlichkeit und einfacher Polarisierung. Tatsächlich ist die Abtreibungsquote in Serbien sehr hoch, gerade unter den ganz jungen Frauen. Tatsächlich sind die gesundheitlichen Risiken für die Frauen schwer zu übersehen, denn es fehlt an Beratung und Aufklärung und vor allem an Unterstützung. Es gibt weder vorher irgendeine sinnvolle Information über Verhütung, noch hinterher irgendeine Begleitung durch das erlebte Trauma. Es gibt Initiativen, die sich dafür stark machen.

Der Irrsinn der Inszenierung besteht darin, dass sie in 90 Minuten vorführt, wie eine notwendige Diskussion außer Kontrolle gerät und die bizarrsten Argumente Emotionen wecken, von denen niemand glaubte, dass er/sie überhaupt davon infiziert ist. Dabei wird vorne keineswegs auf die argumentative Verdrehung gesetzt, es handelt sich nicht um reflexives Theater, sondern um eine rasante Show mit zum Teil haarsträubendem Material an Bildern: Die „Frauen“ führen einen geradezu orgiastischen Tanz auf, während sie an den Krankenhauströpfen hängen. Die „ermordeten Kinder“ sind ausgewachsene Männer, die aus den Armen ihrer „Mütter“ hart auf den Boden stürzen und sich Minuten später gegenseitig in einem „Feuergefecht“ (repräsentiert durch Blumenwasserspritzen) erledigen. Aber darauf kommt es an: Fötaler Tod durch Abtreibung ist verwerflich, heroischer Mordrausch führt zu Unsterblichkeit und Ruhm – siehe oben: heilige Helden.

Also: Warum nicht Kinder kriegen in Serbien? Kinder sind klein. Sie essen wenig. Du hast keine Arbeit, du hast viel Zeit. Warum nicht Zeit für Kinder opfern, wenn es so viel Zeit gibt. Du siehst keine Perspektive? Dann höre auf, abzutreiben und werde Mutter. Die Kinder sind die Perspektive, die zählt. Du bist traumatisiert? Das ist vollkommen normal, die Medizin kennt sich da aus. Ein Trauma ist ein Trauma, nichts besonderes. Und dann mischen sie in diesen zynischen, pseudowissenschaftlichen Diskurs ein paar reale Zahlen: (nicht fiktiver) Mord an Frauen in den Familien, (nicht fiktiver) Mord an (geborenen) Kindern in den Familien, Zahl der allein gebliebenen Kinder, weil die Eltern verrückt oder kriminell oder krank geworden sind. Oder weil sie sich gegenseitig umbringen in dieser Phase des „Selbstmordes der Nation“. Es ist ganz klar, dass hier die Verzweiflung zu sehr schwarzen Scherzen führt und kaum einer/eine im Zuschauerraum kann wirklich darüber lachen. Aber es wirkt wie eine Reinigung und am Ende ist man seltsam dankbar. Es war grauenhaft, aber es hat sich gelohnt.