Schrödingers Gott

Priester werden – Zeitgenössisches Theater in Moskau

http://teatrdoc.ru/events.php?id=245

Manche Menschen mögen Hunde, andere mögen Katzen. Manche fahren lieber nach Petersburg, die anderen sind lieber in Moskau. Ich habe Moskau schon immer gemocht. Das ist inzwischen die Geschichte einer längeren Zuneigung: Meine erste Reise fand 1974 statt, damals pilgerten wir noch in das GUM, wo es Schallplatten von den Beatles gab und das berühmte russische Parfüm „Krasnaja Moskwa“ umgab unsere Lehrerinnen wie ein luxuriöser Mantel. Moskau hat seitdem unendlich viele Metamorphosen erlebt. Die alten, klassischen Parfüms kann man inzwischen wieder kaufen. Da ich jetzt selbst eine Lehrerin bin, benutze ich eins davon, und das macht mich ausgesprochen glücklich.

https://www.fragrantica.com/news/Krasnaya-Moskva-or-Red-Moscow-by-Novaya-Zarya-504.html

Als Teenager war ich von der Stadt erschlagen. Es war die größte Stadt, die ich kannte und riesiger, als alles, was in meinem Kinderkopf Platz fand. Inzwischen habe ich in Schanghai gearbeitet, aber Moskau ist noch immer das, was ich mir unter einer echten Großstadt vorstelle. Vielleicht auch, weil niemand wirklich weiß, wie viele Leute dort eigentlich leben. Weil alles flüchtig ist, und es dennoch Ecken und Winkel gibt, in denen die Zeit eingefroren ist und dieselben Großväter im Unterhemd mit ihren alten Katzen aus den Fenstern schauen.

Der Bundestag hat in Berlin für seine Ausschüsse ein Gebäude errichtet, in dem ohne Probleme mehrere Hubschrauber gleichzeitig herumfliegen können. Vielleicht kann man dort in näherer Zukunft eine Zeltstadt für die inzwischen obdachlos gewordenen Familien einrichten. Dann müssen sich die Miethaie der Stadt nicht mehr anhören, dass sie Menschenfresser sind. Und die bedürftige Mittelschicht kann Heizkosten sparen, denn der Bundestag lässt seinen überdachten Repräsentationsacker ohnehin klimatisieren. In Moskau denkt man sich die Metro als Parallele. Aber anders als in den überwiegend leeren Hallen unserer einheimischen Demokratie schieben sich täglich und stündlich endlos viele Menschen durch das unterirdische Paradies der Moskauer Metro. Das ist vielleicht der Grund, warum man Moskau immer wieder Rastlosigkeit bescheinigt. Im Gedränge der Moskauer Umsteigebahnhöfe einfach stehen zu bleiben, ist gefährlich und vielleicht auch schlicht unmöglich. Gluchowski beschreibt die Metro als unterirdisches Reich, zerfallen in Einzelterritorien rivalisierender Stämme. Tatsächlich fließt sie und mischt die Ströme der Stadt zu einer unüberschaubaren Suppe. Aber Gluchowskis Romane spielen auch erst nach dem Ende der uns bekannten Welt.

In diesem Beitrag geht es eigentlich um Theater. Das wirklich Irrsinnige, das ich tatsächlich nicht verarbeiten kann, besteht im Auseinanderfallen der Zeit an ein und demselben Ort. In Berlin schützen die Wände aus Waschbeton die Parlamentarier vor der Wirklichkeit, die hinter dem Bahnhof Friedrichstraße beginnt. Was da in dem als „demokratisch“ und „transparent“ konzipierten Gebäude stattfindet, gehört vielleicht tatsächlich eher in das Reich der Romane von Gluchowski.

https://www.wired.de/article/der-science-fiction-autor-dmitri-gluchowski-glaubt-nicht-dass-wir-2029-chips-im-kopf-haben

Dort gibt es mehr Wände als Brücken und alle hängen sie in einem Spinnennetz aus Machthunger und kaum einer schafft es, den eigenen Egoismus zu überwinden. Das reale Moskau bietet als Bezugspunkt riesige Einkaufszentren, die so ebenso leer sind, wie das „Paul-Löbe-Haus“. In einem davon, hat sich das Dokumentartheater von Jurij Schechvatov eingenistet, als Gast von NOL Project/Moskau.

Ich stelle mir das in Berlin vor: Oben neben dem Raum für Staubsauger und Klopapier gibt es eine Bühne. Jeden Abend betreten etwa fünfzig Personen das gesicherte Gelände, um gemeinsam über die ausgesperrte Gegenwart nachzudenken und tatsächlich darüber zu sprechen, wie man mit ihr umgeht. Aber hier hakt es aus. Das wird so nicht passieren, es sei denn, sie öffnen das Gebäude tatsächlich für die wohnungslose Durchschnittsbevölkerung der Stadt.

https://www.bundestag.de/besuche/architektur/loebehaus/nutzung/nutzung/198898

https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/volksinitiative-in-berlin-der-mann-der-die-deutsche-wohnen-enteignen-will/23897432.html

In Moskau streife ich notgedrungen an Luxusgeschäften und merkwürdigen Sporteinrichtungen vorbei, verliere die Orientierung in einem kostenlosen Toilettenpalast, blicke ratlos über endlose Reihen von sinnlosen Läden in mehreren fast menschenleeren Etagen. Der Weg war erstaunlich kurz, ich habe es gut gefunden. Nun schlage ich die Zeit tot. Vor wenigen Minuten bin ich durch ein Wohnviertel aus den 70ern gerutscht, eisiger Wind, alte Frauen mit Einkaufstasche und Hündchen. Aus kleinen Lebensmittelläden sickert warmes Licht, rauchende Verkäuferinnen stehen im Schnee. Wenn ich nach dem Einkaufszentrum frage, stöhnen sie und zucken mit den Schultern. Aber als es im Zwielicht auftaucht, ist es ganz nah. Riesig, strahlend und fremd. Eingeflogen von sonstwoher, aber sie haben guten Kaffee. Und der Kellner ist sympathisch und sehr freundlich.

Wie bei einer Matrjoschka schält sich aus dem Inneren des minimalistischen Theaters eine weitere Welt, diesmal jedoch nur noch flüchtig, virtuell, im Spiel verankert. Es ist der innerste Kern in der vielschichtigen Täuschung von Baba Yaga: Realität ist nur noch eine Behauptung. Außen der Umkreis des sozialistischen Wohnungsbaus (natürlich längst privatisiert), dazwischen eingepflanzt das Raumschiff des Konsums, in dessen oberster Schicht das kleine zeitgenössische Theater und in dessen Herz (wie im Herz des Hasen) die Welt von vier jungen Männern, deren persönliches Ziel darin besteht, orthodoxer Priester zu werden. Das spielt das Kollektiv im modernen Moskau, in einer der größten Städte der Welt. Es ist extrem sympathisch. Es gibt die Bekundung von Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen, die in Schwierigkeiten stecken. Es gibt ein junges, absolut aufgeschlossenes Publikum. Es hat einen Anflug von Existentialismus. Tatsächlich erblicke ich in den Händen einer Frau einen Band von Sartre.

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Es ist weniger ein Drama und eher eine Performance. Die Priesterschüler werden von Frauen dargestellt, sehr gute Performerinnen (oder doch eher Schauspielrinnen? Stanislawskischule?) Warum will ein junger Mann in dieser Gegenwart in der Welt von Kirche und Glauben leben? Es gibt keine sensationellen, zitierfähigen Sprüche. Es gibt ein langsames, sich immer neu erfindendes Fließen von Möglichkeiten, von Abweichung und Rückkehr in Hauptstrom. Es ist eine Beobachtung und keine Bewertung, verfremdet durch das Vortragsform der Frauen. Vielleicht ähnelt es der tatsächlichen Lebensweise des Priesters irgendwo draußen in der Provinz: Kinder taufen, Texte vortragen, Tote begleiten, auf Familienfeiern sitzen und zum Essen genötigt werden. Vodka trinken und zuhören, bis es nicht mehr geht. Die Litanei als Lebensgerüst und als weitere Schale zur Abwehr des immer weniger kontrollierbaren Außen. Einmal wird es demonstrativ gesagt: Es geht um den Wunsch nach einem System, das stark genug ist, um zu schützen. Der schwarze Priestermantel als Symbol: Wieder und wieder zusammengefaltet wird er im Ritual die Haut sein, die das Innen vom Außen trennt, das Normale abschneidet und das Innere isoliert. Eine persönliche Echokammer aus Stoff. Wenn sie dann zusammensitzen und gemeinsam trinken, öffnet sich das Kleidungsstück ein wenig, aber nicht genug, damit es abfällt.

Abflug verpasst

„What the Fuck am I doing here“ – Mikser House in Belgrad

Als ich am Donnerstag Abend in Belgrad eintraf, wirkte die Stadt, als sei gerade die Pest ausgebrochen. Ein paar vereinzelte Autos unter der weltraumfähigen Weihnachtsillumination,keine Menschen. Ein einsames Brathuhn in einem Kasten. Das Brathuhn hat definitiv die letzte Chance zum Abflug verpasst. Sonst sind nur die Männer geblieben, die sich in einem Internetcafe vor den Bildschirmen drängen. Hier spricht man Arabisch und die Zeit ist eingefroren: Es gibt kein Vorwärts und kein Rückwärts. Es gibt nur das zermürbende Warten und die Hoffnung auf Skype und auf ein Gespräch mit den Menschen außerhalb von dieser Blase. Wenn sie denn noch leben und wenn es ihnen gut geht. Weihnachten oder Neujahr gehören aus dieser Perspektive gleichermaßen auf den Mars.

In Serbien ist Weihnachten eigentlich nicht besonders wichtig. Und man feiert es auch erst im Januar 2017. Also nicht Weihnachten, sondern Neujahr. Aber trotzdem: So viele Lichter über leeren Straßen. Für wen? Die Verschwendung umfasst über tausend Lichtelemente auf 20 Kilometern, mehr als je zuvor, an vielen Orten, die vorher bescheiden im Dunkeln blieben und nichts weiter waren, als Straßen, in denen Leute lebten. Belgrad sieht sich zunehmend als alternative Variante von Berlin. Manches ist sehr ähnlich: eine Stadt, die sich aufplustert, um zahlende Gäste anzuziehen und zu beeindrucken und dabei vergisst, dass sie Einwohner hat, für deren gute Stimmung Wohnungen, Schulen, Parks und Schwimmbäder eine Rolle spielen. Keineswegs so schön wie Venedig, aber ähnlich geplagt.

Die Belgrader Stadtregierung freut sich auf einen Tourismuszuwachs von 20 Prozent zum Jahresende. In der Mitteilung der öffentlichen Verwaltung heißt es, dass man deshalb alles leuchten lässt, was leuchten kann. Was noch niemals als besonders hell oder strahlend auffiel, war das Bahnhofsviertel und die dahinter liegenden Quartiere der Roma. Letztere sind inzwischen ganz einfach verschwunden. Die Roma sind unsichtbar oder weg. Hier ist ein riesiger Einkaufskomplex geplant. Für die Gäste der Stadt, nicht für die arbeitslosen Bewohner der angeräudeten Häuser, deren Fassaden zwischen uralten Heizungsrohren zerkrümeln. Die ersten Bagger sind bereits an der Arbeit. Belgrad stilisiert sich zur Metropole. Das ist das Selbstverständnis der Stadt, denn jahrzehntelang war sie Hauptstadt, Hauptstadt des nicht mehr existierenden Jugoslawiens.

Metropole heißt in der ironischen Brechung des unabhängigen Theaterkollektivs Mikser House, dass es notwendig wird, sich von der umstrittenen Muttersprache SKB (Serbisch Kroatisch Bosnisch) zu lösen und die Inhalte auf Englisch zu präsentieren. Wer das verpasst, wird ganz einfach nicht gehört. Oben im Studio des Jugoslawischen Dramatheaters gibt es eine einstündige Reise in das Land der postdramatischen Performance und es geht darum, dem Brathuhneffekt zu entkommen: Wer jung ist und eine Ausbildung hat, möchte weg, solange es noch geht und am besten sofort. Die Arbeitslosenquote in Serbien beträgt knapp 18 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit übersteigt die 50 Prozentmarke. Es gibt ein paar Berufe, auf die das Bild nicht zutrifft: IT-Ingenieure, Juristen. Die Performer sprechen über sich, und sie sind alle Künstler. Eine lebt im Ausland, die anderen sind ohne Arbeit. Das heißt, sie arbeiten, aber umsonst. Kommt uns das irgendwie bekannt vor?

http://jdp.rs/predstave/what-the-f-k-are-we-doing-here/

http://house.mikser.rs/

Der Balkan gilt als sicher. Wer einfach so verschwinden möchte, kommt zurück, denn er wird abgeschoben. Das gilt nicht für die gut ausgebildeten Absolventen gefragter Studienfächer. Wie sie es machen, ist nicht immer klar, aber sie gehen. Serbien blutet aus. Wenn die Sonne auf die Cafes scheint, wimmelt es von Menschen. Vor allem die jungen Leute trinken ihren dritten, vierten, fünften Espresso. Im November, mitten in der Woche. Am Abend geht man aus, irgendwie, ohne Geld. Arbeit hat kaum jemand, am Morgen kann es ohne weiteres auch lange dauern. Arm aber sexy. Aber definitiv zu arm für irgendeine Art von Zukunft.

Das ist der Grundton der Inszenierung. Das Straßenbild stimmt mit dieser Stimmung überein. Die Gespräche mit den Studentinnen und Studenten stimmen mich traurig. Niemand glaubt an irgendeine Verbesserung in der Zukunft. Die Regierung verkauft uns, egal wie sie gerade heißt und woraus sie gerade besteht. Das stimmt: Die Regierenden verkaufen ihr Land an zahlungswillige Investoren, unabhängig davon, was die im Einzelnen planen oder treiben.

Und doch gibt es diese etwas träge, mich immer wieder irritierende Selbstvergewisserung auf der nationalen Schiene: Wir sind die Opfer, wir werden von einer Lügenkampagne schlecht gemacht, schaut euch die NATO-Ruinen in unserer Stadt an. Wir fahren zu den Deutschen, weil wir es hier nicht mehr aushalten können, aber dort in Deutschland herrscht der Eiswind: Dort sind sie unpersönlich, herrschsüchtig, kalt. (Dieser Teil hat mich sehr ermüdet. Die ewigen Stereotypen gehen mir inzwischen nur noch auf die Nerven und ihre einzige Funktion besteht in einer suchtartigen, hinterlistigen Verstärkung der Lähmung. )