Angarsk ist eine Industriestadt in Ostsibierien, etwa hundert Kilometer vom Baikalsee entfernt, am Ufer der Angarra, die aus dem See herausfließt und nicht, wie man vermuten würde, in den See mündet. Die Stadt hat etwa 230000 Einwohner und gehört mit Irkutsk zu einer Agglomeration, in der zusammen genommen annähernd eine Million Menschen leben. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es fünftausend Kilometer bis nach Moskau sind (mit dem Zug ungefähr drei Tage) und nördlich der Transsib vor allem Taiga und Steppe liegen, kaum bewohnt und seit Jahrtausenden die Heimat von Waldbeutern und Nomaden. Und in der Gegenwart Quelle des Reichtums der Russischen Föderation, denn hier liegen die Bodenschätze, die in Moskau und Petersburg versteuert werden und den Glanz dieser Metropolen garantieren.
Angarsk wurde 1948 gegründet. Es handelt sich um eine Planstadt, angelegt für die Arbeiter und Arbeiterinnen der Industriebetriebe, die hier ihren Standort fanden. Bei der Annäherung an die Stadt fallen Stromtrassen, Systeme von Rohrleitungen, Industrieschlote ins Auge. Auf den ersten hundert Kilometern fließt die Angarra relativ unbehelligt durch ihr auseinander gezogenes Flussbett (wenn man vom Stausee und dem dazugehörigen Wasserkraftwerk in Irkutsk einmal absieht), in Angarsk verliert sie die Unschuld. Hinter einem schützenden Saum aus Kiefern und Birken ragt eine Anordnung aus Verarbeitungsanlagen und Speicherbauten für Chemie- und Erölprodukte in den Horizont. Am Abend erlebt man den Feuerschein, den Georg Heym in seiner expressionistischen Lyrik für das Berlin der Gründerjahre beschrieb.
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Man liest, dass die ersten Anlagen für die Errichtung der Stadt aus Deutschland stammten, wo sie im Zuge der Reparationen demontiert wurden. Man hört (ohne genauen Hintergrund oder Daten), dass die Bauarbeiten im Stadtkern von deutschen Kriegsgefangenen ausgeführt wurden. Fest steht, dass die Gründung der Stadt unmittelbar mit dem Kriegsende verbunden ist. Dies manifestiert sich auch im Stadtbild: zu den repräsentativen Gebäuden gehört der prachtvolle Palast der Veteranen, der im Zentrum eine der zentralen Sichtachsen abschließt. Die Symbolik des Sieges ist präsent, aber erstaunlicherweise überwiegen die Elemente einer ganz anderen Thematik: Man denkt an Vergil und seine „Georgica“ (Gedichte vom Landbau; vollendet 29 v.u.Z.), verfasst zum Ruhme des Augustus und der ihm zugeordneten kulturellen Erneuerung nach dem Blutvergießen der Bürgerkriege. Die Anklänge an die Antike sind kaum zu übersehen: der Maskenfries am (heute nicht mehr bespielten) Theater, die Friese über den Türen der Wohnhäuser, die Säulengänge an Kreuzungen und Straßenenden. Selbst Tore und Zäune werden von Blütenkelchen verziert.
Angarsk, die Stadt, in der bis heute mehrere große Straflager an die Industriekomplexe angeschlossen sind, inszeniert sich als Stadt des friedlichen, naturverbundenen Lebens in einer sorglosen, von Harmonie geprägten Zukunft. Die beherrschenden Farben besänftigen das Auge. Es ist eine Stadt der Fußgänger. Die Straßenbahn bewegt sich zwischen Ebereschen, die Höfe sind ausgedehnte grüne Oasen. Wäsche trocknet in der spätsommerlichen Sonne, Katzen liegen faul auf Balkonen, an denen verschwenderisch der Stuck prangt. Die Straßen der Innenstadt zeugen von einer durchdachten, auf Harmonie orientierten Planung. Die Traufhöhe wechselt, um Monotonie zu vermeiden. Das Verhältnis von Variation und Wiederholung spricht von einer nahezu musikalischen Einstellung zur Komposition. Im Inneren der Höfe finden sich kleinere Funktionsgebäude (Kindergarten, Bäckerei, Waschhaus), um innerhalb des geschlossenen Rahmens für Auflockerung und Struktur zu sorgen.
Ende August bewege ich mich durch einen aus der Zeit gefallenen Traum. Ich vergesse den Kontext von Stalin, Repression und Zwangsarbeit. Es entsteht der Wunsch zu verweilen und nicht zurückzukehren in diese reale Welt mit all den Herausforderungen, auf die ich kaum eine Antwort weiß. Während ich auf der Bank sitze und den Elstern zusehe, denke ich weder an die nahegelegene Plutoniumfabrik in Angarsk, noch an die Pandemie, noch an den gerade erst stattgefundenen Aufstand in einem der Lager im Umkreis der Stadt. Ich verfalle in einen Traumzustand, der mir vorgaukelt, dass es die bessere Zukunft tatsächlich gibt. Hier, im Schatten dieser Häuser, deren Architekten zumindest so taten, als ob sie daran glaubten. Obwohl die eigentlichen Erbauer während der Errichtung wahrscheinlich sehr unter Hunger, Kälte, Erniedrigung und Heimweh litten. Das Heimweh kenne ich. Die Grenze zwischen der Russischen Föderation und Deutschland ist seit einem halben Jahr geschlossen.
Ulitzkaja hat ein Buch unter dem Titel „Und morgen beginnt das Glück“ publiziert.
https://ast.ru/book/detstvo-45-53-a-zavtra-budet-schaste-128340/
Sie versammelt Lebenserinnerungen der Nachkriegsgeneration in der Sowjetunion, die davon zeugen, dass es ein hohes Maß an Bereitschaft zum Verzicht gab, weil der Glaube herrschte, dass der Weg in die Zukunft ein Weg in das ungestörte Glück der kommenden Generationen sei. Studiert man die Friese über den Türen der Häuser in Angarsk, bekommt man eine Idee davon, wie das ausgesehen haben könnte.
Zwischen den Blumengirlanden bewegen sich Gestalten, denen jeder Hang zur Aggression fehlt. Selbst ein Fußballspiel verwandelt sich in eine Ballettvorführung, Wettkampf und Konkurrenz sind ausgelöscht. Männer und Frauen stehen sich wie bei einer folkloristischen Tanzveranstaltung gelöst und unbeteiligt gegenüber. Jede echte Berührung würde zur Dissonanz, zu einem stilistischen Anachronismus. Das Glück der Menschen hat an solchen Kontakten keinen Bedarf. In dieser Zukunft sind alle fröhlich, aber jeder für sich allein. Zumindest in diesem Punkt gibt es eine Parallele zu der Gegenwart, in der ich tatsächlich lebe. Ansonsten kam alles anders. Deshalb zeigt sich der Geist von Pompeji in Angarsk im Inneren der Häuser, an den Fassaden, an den nicht mehr bespielten Kinos.