Können Maschinen lügen? Lügt Claas Relotius?

Ist die Lüge etwas, das der Mensch dem Algorithmus voraus hat?

Auch die Wahrheit eignet sich zum Lügen. Automatische Nachrichtenerzeugung generiert den Text ausnahmslos aus den sogenannten Fakten. Literatur lügt immer und transportiert doch oft genug die erlebte oder gefühlte Wahrheit. Und die professionellen Journalisten? Schreiben die im Gegensatz zu den Schriftstellern normalerweise über die Wahrheit? Ist so etwas überhaupt zu leisten? Auch Journalisten treffen gezwungener Maßen eine Auswahl. Ohne das Prinzip der Verdichtung entsteht in keiner Umgebung ein lesbarer Text. Die Einfügungen, die aus der normgerecht amputierten Anordnung wieder lebendige Ereignisse werden lassen, gehen im Regelfall auf das Konto der Leser. Wenn es dann knirscht, weiß der Leser möglicherweise mehr als der Autor. Aber worüber eigentlich? Über eine selbst geleistete Forschungsarbeit oder über die eigene Krankheit oder über das Vorkommen früheisenzeitlicher Schwerter, die man selbst im Nebel der sächsisch-brandenburgischen Moore illegal ausgräbt?

Claas Relotius hat so getan, als ob er neben einer äußerst seltsamen Frau im Bus fuhr, als diese ihrer Lebenserfahrung einen weiteren Todestrakt hinzufügen wollte. Und später hat er den Eindruck erweckt, dass er mit ihr gemeinsam diese fragwürdige Reise bis zum Ende geteilt hat. Er hat uns das Erlebnis einer Hinrichtung vorgegaukelt, ohne das Gebäude selbst auch nur betreten zu haben. Es gibt ein Problem mit der Authentizität. Es gibt eine Lücke zwischen dem „das hätte so passieren können“ und dem „das ist tatsächlich so passiert“. Und weiter? Ist das, was ich sonst so lese, in irgend einer Hinsicht realer? Wenn ich den Spiegel in die Hand nehme, fesselt mich der Teil über die Wissenschaft. Von Physik oder von Endokrinologie habe ich nicht die geringste Ahnung. Ich lese und denke, dass ich etwas lerne. Aber wenn es um Sprache geht oder gar um mittelalterliche Geschichte, dann verlässt mich das Vergnügen. Diese Fächer habe ich studiert. Dann knirsche ich mit den Zähnen. Tiefer Ärger erfasst mich bei oberflächlichen, dem Klischee verhafteten Beiträgen über Länder, in denen ich gelebt habe: Serbien, Litauen, Russland. Ist das, was der Spiegel hier immer wieder verbreitet, eine Form von Wahrheit?

Geht es möglicherweise gar nicht anders? Was mache ich denn selbst, wenn ich an meinem neuen Wohnort (Irkutsk am Baikalsee) die Kamera auf Dinge und Situationen richte, von denen ich glaube, dass sie bei meinen Freunden Interesse wecken? Fotografiere ich die großzügig ausgestatteten Räume im Sprachenzentrum oder das mehr als zeitgemäße Kundenmanagement in der Bank? Ich fotografiere die Straßenbahn, die seit neunzig Jahren unverändert durch den Schnee fährt und die alten Frauen, die aussehen, als wären sie von Anfang an dabei. Das schafft Aufmerksamkeit. Das mit der Bank ist unmarkierter Alltag, denkbar in Barcelona, Schanghai oder Belgrad.

Wäre Claas Relotius ein Schriftsteller, hätte er möglicherweise ebenso viele Preise gewonnen und könnte sie nun ohne Schwierigkeiten behalten. Das Problem sind nicht die Texte, das Problem ist das Etikett. Ehrlich gesagt beruhigt mich die Information, dass es im Spiegel eine sogenannte Dokumentation gibt, überhaupt nicht. Wenn dort professionelle Mitarbeiter die Farbe der Steine in irgendwelchen Gebirgen überprüfen, wird der allgemeine Unsinn dadurch zwar unangreifbarer, aber keineswegs richtig. Ein wenig erhebt sich die Frage, ob es überhaupt noch Leute gibt, die von einem Artikel in den führenden Medien „Wahrheit“ erwarten. Was ist diese Wahrheit anderes, als das Zusammentreffen mit dem, was man vorher bereits gewusst hat?

Ist Relotius vielleicht trotz allem ein ziemlich guter Autor? Für meinen Geschmack ganz sicher ein wenig zu grell, aber in jeder Hinsicht erfolgsberechtigt? Man könnte seine Reportagen sammeln und als Band von Kurzgeschichten veröffentlichen oder als Band von etwas, was sie tatsächlich sind: fiktive Texte im Textformat der politischen Dokumentation. Wenn ich einen Verlag besitzen würde, dann wäre das für mich ein Anlass, Geld zu investieren. Ich würde die Texte kaufen. Das mit der Frau, die regelmäßig zu Hinrichtungen reist, wäre die Vorlage für ein spektakuläres Drehbuch. Vielleicht passiert das noch. Die Erfindung der Idee und die Recherche der möglichen Wirklichkeitsverankerung einer solchen Idee hätten den Erfolg verdient. Auch wenn sich das hier wie Spott liest, meine ich es zumindest teilweise ernst. Ein guter Text unter der falschen Überschrift wird in unseren Augen zum Bastard. Aber es bleibt ein guter Text.

Was der Spiegel gerade vorführt, ist die Vorlage für eine Doku, die wir uns in zehn Jahren ansehen werden. Mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich mir vorstelle, wie es ist, in der Zukunft dort zu arbeiten. Es muss reißerisch sein, es muss faktisch richtig wirken, es muss als Ware verkäuflich bleiben und es muss in einer Atmosphäre aus Misstrauen und Kontrolle zu seiner Reife finden. Das ist für mich der komplette Alptraum. Mein Institut hat den Spiegel abonniert. Ich nehme an, dass der Umschlag in Zukunft deutlich nach Schweiß riecht.